46
zum Gegenstande haben. Die Geisteswissenschaften bilden den Na-
turwissenschaften gegenüber ein selbständiges Ganzes. Der Beweg-
grund dieser Absonderung reicht in die Tiefe und Totalität des
menschlichen S e l b s t b e w u ß t s e i n s zurück, worin der Mensch
in der Souveränität des Willens, in dem „Vermögen, alles dem Ge-
danken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner
Person zu widerstehen“, eine Tatsache vorfindet, durch welche er
sich von der ganzen Natur absondert
1
. Vom Standpunkte der i n -
n e r e n E r f a h r u n g , die so einem ä u ß e r e n E r f a h r e n
(dem mechanischen Naturzusammenhange) gegenübergestellt wird,
steht die gesamte Außenwelt unter der Bedingung des Bewußtseins
und ist sonach von diesem abhängig. Vom Standpunkte der äußeren
Erfahrung hingegen bietet sich ein Abhängigkeitsverhältnis des Gei-
stigen vom Naturzusammenhange dar, und zwar derartig, daß „der
allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen Tatbestände
und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns regelmäßig
und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geistigen Tat-
beständen und Veränderungen verbunden sind“
2
. Auf dieses Ver-
bundensein des Geistigen mit dem Körperlichen ist das Kausalver-
hältnis nicht anwendbar.
Diesem Standpunkte gemäß muß die Geisteswissenschaft in wei-
tem Umfange Naturerkenntnis in sich schließen. Die G r u n d -
l a g e d e r G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n bildet daher die Er-
kenntnis der im Naturzusammenhange liegenden Bedingungen
ihrer Objekte, somit alle Wissenschaft von der organischen und an-
organischen Natur. Und das entsprechend einer z w e i f a c h e n
A b h ä n g i g k e i t d e s M e n s c h e n v o n d e r N a t u r :
diese bildet nämlich einmal insofern ein System von Ursachen der
geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, als materielle Tat-
bestände an die geistigen Tatbestände geknüpft erscheinen, nur in-
nerhalb eines bestimmten Naturzusammenhanges auftreten, als also
das Nervensystem Einwirkungen (Veränderungen) empfängt; so-
dann bildet die Natur auch insofern ein System von Ursachen, als
die Rückwirkung des Menschen auf die Natur, sein H a n d e l n ,
1
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft, Versuch einer
Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte, Bd 1 (einziger
Band), Leipzig 1883, S. 7.
2
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft, a. a. O., S. 20.