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lieber Methoden und Begriffe und ebenso jede Anlehnung an die-
selben in der Geisteswissenschaft unfruchtbar und führt zur V e r -
s t ü m m e l u n g der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Die Erkenntnis geschieht vielmehr durch Zergliederung der uns
p r i m ä r gegebenen Tatbestände, nicht durch ein von außen her-
angebrachtes Schema. E i n e e i n f a c h e Ü b e r t r a g u n g d e s
K a u s a l i t ä t s b e g r i f f e s i s t u n g i l t i g ;
u n d
d i e s
i s t
v o n e n t s c h e i d e n d e r W i c h t i g k e i t . Die Kategorien von
Substanz und Kausalität werden erst aus den Eigenschaften des
strukturellen Zusammenhanges des Seelenlebens entwickelt, sie sind
daher nicht rückwärts auf das Leben übertragbar. Daher ist z. B.
die Verdeutlichung der Gesellschaft durch die Analogie des Organis-
mus ganz verkehrt. Eher ist das Entgegengesetzte wertvoll, denn
was im Begriffe des Organismus dunkel und hypothetisch ist, wird
in der Gesellschaft erlebt. „Die Beziehung von Zweck, Funktion
und Struktur, welche im Reiche der organischen Wesen nur als hy-
pothetisches Hilfsmittel die Forschung leitet, ist hier erlebte . . .
Tatsache.“
Die Geisteswissenschaften enthalten drei verschiedene Klassen von
Aussagen: ihre h i s t o r i s c h e n B e s t a n d t e i l e bilden die
Aussagen von Wahrnehmbarem, Wirklichem (Tatsachen); ihre
t h e o r e t i s c h e n B e s t a n d t e i l e die Aussagen der Gleich-
förmigkeiten innerhalb von Teilinhalten dieses Wirklichen (Theo-
reme) ; ihre p r a k t i s c h e n B e s t a n d t e i l e die Aussagen von
Werturteilen und Imperativen (Regeln). Die letztere Klasse ist von
den ersten beiden primär verschieden. Diese (ersteren) haben an
der Wirklichkeit, jene an ihrem bestimmten Ziel ihre Instanz. Dies
ist auch ein grundlegender Unterschied von den Naturwissenschaf-
ten
1
. Das mit diesen dreifachen Aussageklassen gegebene dreifache
Ziel kann natürlich nicht die Systematik der Geisteswissenschaften
bestimmen, vielmehr gliedert sich diese Systematik an den ausge-
lösten abstrakten Teilinhalten der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Die Einzelwissenschaften erkennen diese Wirklichkeit nur relativ
1
Auf Grund einer solchen Unterscheidung nomothetischer (kausaltheoreti-
scher) und idiographischer (historischer) Aussageart haben später Wilhelm Win-
delband und Heinrich Rickert eine Theorie der Begriffsbildung und der Klassi-
fikation der Wissenschaften ausgebildet, an der Dilthey vor allem widerlegbar
wird.