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V.
Bemerkung über die Einsichtigkeit der Geometrie
Die Frage, wieso jene Sicherheit und Denknotwendigkeit der
Einsichten, welche die Geometrie gewinnt, möglich ist, kann nicht
nach Kant beantwortet werden, wonach der Raum nur eine apriori-
sche Stammform unserer subjektiven Anschauung, eine sinnliche
Kategorie wäre. Denn gesetzt, der Raum wäre ausschließlich subjek-
tiv-apriorische Anschauungsform (die sogenannte Subjektivität des
Raumes), dann bedingte das noch nicht, daß wir seine Eigenschaften
einsichtig verstehen müssen. Denn dann wäre nicht einzusehen,
warum wir nicht auch die Zeit, die nach Kant ebenfalls ein subjek-
tives Apriori ist, in ganz gleicher Weise einsichtig verstehen. War-
um gibt es dann nicht eine „Geometrie der Zeit“ mit vollkommen
gleicher Einsichtigkeit?, mit Sätzen wie „die Summe aller Winkel
des Dreieckes ist gleich zwei rechten“?
In welchem Sinne für die Zeitgebilde (Rhythmen und so weiter)
als Entsprechungen der Raumgebilde Einsichtigkeit gilt, geht aus
dem in früherem Zusammenhange Gesagten hervor. Der / Unter-
schied, der in der Einsichtigkeit der Sätze im Vergleich zum Raume
hier besteht und nicht besteht, kann von unseren Voraussetzungen
her, wie uns dünkt, vollständig erklärt werden, von der Kantischen
Voraussetzung der ausschließlichen Subjektivität des Aprioris her
dagegen nicht
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.
Der Grund für die Einsichtigkeit der geometrischen Wahrheiten
liegt nicht in einem subjektiven Apriori, er kann vielmehr nur in
der Anschauung selbst gefunden werden. Indem wir die einfachsten
Grundverhältnisse des Raumes, die sogenannten euklidischen
Axiome, durch sinnliche Anschauung zu überblicken vermögen,
sind wir auch imstande, ihre Notwendigkeit einzusehen. Die Ein-
sichtigkeit ist an die sinnliche anschauliche Urgegebenheit des Rau-
mes geknüpft, sie geht in einem subjektiven Apriori nicht auf.
Daher reicht denn auch die Einsichtigkeit der Geometrie nur so weit,
als die Anschaulichkeit reicht; genauer gesagt: s o l a n g e s i e
d i e F o l g e r u n g e n a u s d e n e i g e n e n a n s c h a u l i c h e n
S e t z u n g e n z i e h t (die zuletzt auf Gezweiung höherer Ord-
nung zurückgehen). — Die entwerfende Anschauung selbst ist es,
1
Vgl. oben S. 348 ff. und 353.