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z e l n e n h e r l e i t e t . „Summe“, „Haufen“ besteht nur aus
den Bestandteilen und ist für sich selbst nichts.
Daher ist der konstitutive Grundsatz dieser Gesellschaftsauf-
fassung theoretisch wie politisch die F r e i h e i t . Die Freiheit ist
das Baugesetz der Gesellschaft und das Lebensgesetz des Einzelnen
nach individualistischer Auffassung. Denn wenn der Einzelne auf
sich beruht und der Zu- / sammenhang der Einzelnen in der „Gesell-
schaft“ wesenlos ist, kann nur die Freiheit seine Entwicklung för-
dern, Einschränkung der Freiheit muß sie hemmen. Das geistige
Insichberuhen der Einzelnen (geistige Autarkie oder Selbstbe-
stimmtheit) schließt ihre Freiheit als Forderung in sich.
Der individualistische Gedanke erscheint in drei Hauptformen
durchgeführt: im A n a r c h i s m u s , welcher z. B. in dem Stir-
nerischen Grundsatze „Mir geht nichts über mich“ folgerichtig die
feste Ordnung des Zusammenlebens und daher den Staat verneint
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;
im M a c h i a v e l l i s m u s (Machtlehre) und in der V e r -
t r a g s t h e o r i e (Naturrechtslehre). Dem Machiavellismus er-
scheinen Gesellschaft und Staat als Herrschaftsverhältnisse der Men-
schen schlechthin, er erklärt sie als Sieg des Stärkeren über den
Schwächeren. Es ist nur folgerichtig, daß dieses rein individualistisch
gedachte Verhältnis auch mit unmoralischen Mitteln aufrechterhal-
ten werden darf. „Jeder, der es darauf anlegt“, heißt es im „Fürsten“
von Machiavelli, „in allen Dingen moralisch gut zu handeln, muß
unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zugrunde gehen;
daher muß ein Fürst, der sich behaupten will, sich auch darauf ver-
stehen, nach Gelegenheit schlecht zu handeln.“
Die praktisch wichtigste individualistische Gesellschaftslehre ist
die Vertragstheorie oder das neuere Naturrecht. In ihrer reinsten
Form leitet sie den Staat aus einem Zusammenstoße der Einzelnen,
dem Krieg aller gegen alle, dem Bellum omnium contra omnes, und
der „Furcht aller vor allen“ ab, welche beide nach dem Engländer
H o b b e s im menschlichen Urzustande herrschen. Um diesem
Kriege ein Ende zu machen, treten die Menschen zu einem Staate
zusammen, indem sie in einem Vertrage, dem Urvertrage, ihre
eigene Herrschaftsgewalt an eine Zentralstelle übertragen und so
Ordnung, Recht und Gesetz schaffen. Durch diesen Urvertrag sind
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Max Stirner (Kaspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigenthum, Leip-
zig 1845, S. 424 ff.