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Wer das Verhältnis von Schauen und Handeln richtig festhalten
will, muß immer wieder bedenken, daß das Werk keine bloße Fort-
setzung, kein bloß Nachfolgendes und als solches schiedithin Die-
nendes und Mittelhaftes sei; nein, daß es vielmehr dasjenige sei, in
dem das Geschaute erst seine Auswirkung, das heißt aber: seine
V o l l - W i r k l i c h ke i t erlangt! Ungewirkt ist das Geschaute
überall leiblos und noch schwankend; ungemeißelt ist das innere
Gesicht des Bildhauers noch halb ungestaltet, noch unfertig; un-
ausgesprochen ist der Gedanke des Dichters noch leblos, ohne Klang
und Rundung; ungetan ist der Vorsatz des Staatsmannes, des Krie-
gers, des Erfinders noch blutleer, noch unbewährt und gleichsam
schal; unausgewirkt ist die Leidenschaft weder zu ihrem Sturm noch
zu ihrer Stille, weder zur Gärung noch zum Weine gelangt; un-
ausgearbeitet ist die Eingebung des Forschers noch nicht erhärtet,
noch ohne Zusammenhang mit anderen Gedanken und darum noch
nicht vollen Bürgerrechts im Reiche der Wahrheiten. Wo man auch
das Verhältnis von Geist und Werk betrachtet, überall findet man,
daß das Werk nicht / nur Folge und dadurch Mittel des Geistigen,
sondern zugleich seine E r f ü l l u n g u n d B e w ä h r u n g , seine
letzte Wirklichmachung in sich schließe. Darum, wir wiederholen
es, ist das Handeln kein bloß Äußeres oder gar Mechanisches, son-
dern ein aus der Tiefe der Innerlichkeit Hervorbrechendes (und
mag es selbst das einfachste Erleben auf der sinnlichen Ebene sein);
notwendig erfüllt und vollendet sich in diesem Hervorbrechen erst
das Hervorbrechende.
Alles Handeln ist auf solche Weise seiner Natur nach ein innerlich
gegründetes, ein ausbrechendes Handeln; alles Schauen verlangt sei-
ner Natur nach durch Ausbrechen zur Voll-Wirklichkeit zu gelan-
gen. In dieser Gegenseitigkeit zwischen Geist und Werk hat der
Geist den Vorrang.
Von selbst ergibt sich aus allem Vorstehenden der Satz:
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Das G e i s t i g e i s t v o r d e m H a n d e l n ; aber Gei-
stiges will sich in Handeln verwandeln, um dadurch zu seiner Voll-
Wirklichkeit zu gelangen. Geist kann ohne Werk nicht wirklich
werden. — Die deutsche Sprache nahm diesen Satz vorweg, indem
sie die Realität als ein Wirken = W i r k lichkeit bezeichnet
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Weiteres über das Verhältnis von Schauen und Handeln, siehe unten,
Drittes Hauptstück, Sittenlehre, V und VII, S. 231 ff. und 236 ff.