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Gut zu erlangen; in der Pflichtenlehre, welches Verhalten des Sub-
jektes dazu nötig sei. Das Hervorbringliche, das in der Sittenlehre
überall anzutreffen ist, macht, daß sie gleichsam ein zweiter Schöpfer
in der menschlichen Gesellschaft wie im Geiste und Tun des Einzel-
nen wird.
Hieraus ergibt sich auch die eigentümliche Stellung in der
Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens.
Indem die Sittlichkeit Quelle vervollkommnenden Tuns ist, tritt
sie als r a n g f e s t s t e l l e n d e r Geist ähnlich wie ein neuer Teil-
inhalt praktisch neben das Geistursprüngliche und zu ihm hinzu,
und bildet dadurch als f e s t i g e n d e r G e i s t , das ist als ein das
Geistursprüngliche und seine Ableitungen samt dem Handeln Ver-
vollkommnendes, mit diesem eine neue, größere Einheit. Wir nen-
nen diese neue Einheit den g e f e s t i g t e n G e i s t d e r G e -
s e l l s c h a f t o d e r d i e K u l t u r .
„K u l t u r“ ist das durch die Sittlichkeit gefestigte, zu steter
innerer, schöpferischer Selbstreinigung und Neuhervorbringung ge-
brachte Geistursprüngliche mit seinen Ableitungen — zum Unter-
schiede von der „C i v i 1 i s a t i o n“, welche der Inbegriff des
Äußerlichen, insbesondere der Technik einer Kultur ist.
Das Geistursprüngliche für sich selber verdient noch nicht den
Namen der „Kultur“ oder des „gefestigten, des vereinheitlichten /
und vervollkommnten Geistes“. Erst die Sittlichkeit als Quelle
des Handelns macht, daß uns das Geistursprüngliche nunmehr nicht
nur als eine bloß inhaltlich bestimmte Einheit von Religion, Wissen
und Kunst entgegentrete, sondern darüber hinaus als der in einem
geordneten Streben in Vervollkommnung und innerer Erneuerung,
Wiederherstellung begriffene Geist, so daß er erst jetzt als ein wohl
gegründeter, dem Verfall entzogener, als ein gefestigter und gleich-
sam sich selbst verklärender Geist sich darstellt. Und diesen erst
nennen wir „Kultur“. Darum ist in diesem Betracht der „Nieder-
gang einer Kultur“ ein ebensolcher Widerspruch wie „sterbendes
Leben“.
Das ist der Schlüssel für die Verfallzeiten der Geschichte: das Ab-
sterben der Sittlichkeit, des Strebens nach wesenhafter Vollkom-
menheit. Verfall ist die Abschwächung, Verneinung der Festi-
gung des Geistursprünglichen. Echte Kultur ist ein kräftiges Grünen
und Blühen des vervollkommnenden Geistes.