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Z w e i t e r A b s c h n i t t

Besondere Sittenlehre

IV.

Die Güter- und Tugendlehre auf dem Grunde

der Gesellschaftslehre

Wie werden die sittlichen Güter erkannt und als Ziel des inneren

Lebens wie des äußeren Handelns bestimmt?

Die Erkenntnis der Güterordnung ist die schöpferische Tat des

großen Sittenlehrers, voran des religiösen Genius. Ihre wissen-

schaftliche Form aber erhält sie abschließend erst durch die Ver-

bindung mit der zergliedernden Gesellschaftslehre.

Sobald die Sittenlehre von der Stufe der Allgemeinbegriffe zur

bestimmten Behandlung der sittlichen Fragen übergehen und da-

mit, obzwar nicht von einer formalen, so doch von einer grund-

legenden zur geschichtlich-konkreten Lehre werden will, muß sie

eine

Tafel der Güter und der Tugenden

entwerfen. Damit gehen

wir von der allgemeinen zur besonderen Sittenlehre über.

Die Tafel der Güter kann nur vom objektiven Geiste aus ent-

worfen werden, da er der Inbegriff aller überpersönlichen Güter

ist. Damit kehren wir die herrschende Lehre um, wonach man mit

den individuellen Pflichten und Tugenden, mit der „Individual-

ethik“, zu beginnen und von da erst zur „Sozialethik“ aufzusteigen

habe. Indem die Güter zuerst im objektiven Geiste, der Gemein-

schaft, liegen, ist die Sittenlehre notwendig z u e r s t

e i n e

„ s o z i a l e S i t t e n l e h r e “ u n d e r s t a b g e l e i t e t e r -

w e i s e e i n e i n d i v i d u a l e ; sie ist damit auch von Anbeginn

eine inhaltliche, „materiale“ und nicht bloß eine „formale“.

Es ist notwendig, dies eigens hervorzuheben, da die empiristische

Sittenlehre in Wahrheit nur „Individualethik“ ist und sich ver-

gebens bemüht, „Sozialethik“ zu werden; die neukantische ferner

nur formal ist. Indem die Sittenlehre vom Gesamtgeiste der Ge-