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ist nicht eine homogene Freiheit, sondern ein G e b ä u d e von

Freiheiten, das der Mensch in sich aufrichten und auf einer un-

erschütter- / lichen Grundfeste aufzubauen hat. Diese Grundfeste

kann aber zuletzt nur das Tiefste in seinem Geiste bilden, das Meta-

physische, Religiöse.

VIII.

Das Leiden

Wenn der sittliche Vorgang, das Einschlagen der Richtung zum

Vollkommenen den ganzen Menschen durchzieht und in jeder Faser

seines Geistes sich vollziehen muß; und wenn er überall nur durch

den Weg der Reinigung, der Via purgativa, einen Anfang machen

kann; dann ermessen wir daraus die Unentbehrlichkeit und die

F r u c h t b a r k e i t d e s L e i d e n s für den Menschen.

Es ist eines der größten Gebrechen unserer Zeit, daß sie den Lei-

den lediglich nur auszuweichen sucht, daß sie von der reinigenden

Kraft des Leidens sich keinen Begriff zu machen trachtet. Das ist ein

Hemmnis für die richtige Beurteilung aller gesellschaftlichen Auf-

gaben, besonders für die Lösung der „sozialen Frage“. Denn ohne

Achtung vor dem Leiden kann der Arme seinem bitteren Lose keine

einzige lichte Seite abgewinnen, wie umgekehrt Genuß und Reich-

tum dadurch viel zu hoch geschätzt werden.

Ohne auch das Große und Fruchtbare im Leiden zu werten, ist ein

Ausweg aus den politischen und wirtschaftlichen Nöten unserer

Tage, ist eine Lösung der „sozialen Frage“ und vieler anderer „Fra-

gen“ nicht möglich. Ohne das Große und Fruchtbare im Leiden zu

ermessen, ist aber auch die ganze heutige Art, Sittlichkeit zu er-

streben, verfehlt, die ja trotz des Verfalles unserer Zeit immer noch

kräftig am Werke ist. Nicht zum wenigsten der Sozialreformer und

Sittenverbesserer muß sich aufs Harte verstehen und die reinigende

Kraft des Leidens zu würdigen wissen.

Leiden bleibt nicht in der Besonderheit des Einzelnen befangen!

Leiden weist auf ein Uber-Dir, auf Objektivität hin. Es hebt die

Subjektivität auf, zeigt uns ihre verhältnismäßige Nichtigkeit an

und erhebt gerade dadurch das Subjekt in höhere Ebenen empor.

Die verhältnismäßige Nichtigkeit des Einzelnen ist aber seine Glied-

haftigkeit. Denn nicht selbst das Ganze zu sein, das ist seine Be-