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VI.
Die Sittenlehre ist nicht allein eine Lehre vom Wollen
und Handeln
Die herrschende Ansicht, wonach die Sittenlehre ausschließlich
eine Lehre vom Wollen und Handeln, die Ethik „Willensethik“
sei, können wir nicht als richtig anerkennen
1
. Dieser Begriff der
Sittenlehre ist zu eng. Da die S i t t l i c h k e i t d i e R i c h -
t u n g a u f d a s V o l l k o m m e n e i s t , i s t s i e a u f j e -
d e m G e b i e t e d e s G e i s t e s z u f i n d e n , nicht nur auf
dem des Wollens und Handelns. Das erste sittliche Geschehnis liegt,
so fanden wir, schon in der „Annahme“ der Eingebung, des Ein-
falles; aber auch im Denken, als einem Schaffen aus Geschaffen-
Werden, dem eigenen Ergreifen und Weiterbilden des Eingegebenen
auf der Ebene des Logischen; ebenso im künstlerischen Gestalten
vollzieht sich ein sittlicher Vorgang. Denn Annahme, Denken und
Gestalten hat entweder eine den Geist vervollkommnende oder ihn
verderbende Richtung. Die nächsten sittlichen Geschehnisse des
Geistes liegen in der Sinnlichkeit, sofern dort Entsprechungen zur
„Annahme“ und zum eigenen Gestalten der Empfindungen der
inneren Sinnlichkeit (Trieb) und der äußeren Sinnlichkeit (Gebrauch
der Sinnesorgane, Gestaltung der Sinneserfahrung) bestehen. Erst
zuletzt kommt das Wollen und Handeln, das nur möglich ist, in-
dem es die Summe der vorherigen Geistesstufen zieht
2
.
Die Kantische Scheidung einer theoretischen und praktischen Ver-
nunft muß grundsätzlich abgelehnt werden. Der menschliche Geist
ist auf allen Gebieten schauend (theoretisch) und schaffend, also
handelnd, praktisch. Auch im Denken ist er schauend / (intuitiv) und
schaffend (diskursiv). Die Tat des Denkens und die Tat des äußeren
Handelns sind beide ein Tun.
1
Für K a n t fällt die Ethik ganz allein in die praktische Vernunft, also Wol-
len und Handeln. Dem entsprechen die N e u k a n t i s c h e n Schulen; erst recht
bei den e m p i r i s t i s c h e n Schulen. Offenbar unter empiristischem Einflusse
wird sogar bei der Erklärung Platons und Aristoteles Wollen und Handeln über
Gebühr in den Vordergrund geschoben. Vgl. für die N e u a r i s t o t e l i k e r
z. B. Alphons Lehmen: Moralphilosophie (= Lehrbuch der Philosophie auf ari-
stotelisch-scholastischer Grundlage, Bd 4), 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 1919,
S. 1: „...Ethik i s t . . . die Wissenschaft, welche das sittliche Handeln des Men-
schen ... aus seinen letzten Gründen zu begreifen sucht.“
2
Siehe oben S. 104.