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C.

Die g e s c h i c h t l i c h e n F o r m e n

d e s A p r i o r i s m u s

1 . S o k r a t e s (469—399 v. C h r . )

Der Athener Sokrates lehrte im Gegensatze zu den Sophisten die

Möglichkeit gültiger Wahrheiten, und zwar die Definitionen der

Allgemeinbegriffe, wie z. B. dessen, was fromm, gerecht, tapfer sei.

Ein zweiter Hauptpunkt seiner Lehre liegt in dem Satze, die Tu-

gend sei ein Wissen, woraus folgt: Wissen macht gut. Es ist ein und

dasselbe, zu wissen, was gerecht sei und gerecht zu sein

1

. Der

Schwerpunkt der Lehre liegt aber trotz solcher Gleichsetzung von

Wissen / und Tugend in der Begründung der Sittlichkeit, nicht in

der Begründung der Erkenntnis. — Endlich liegt in der Sokratischen

Lehre die Anerkennung sittlicher Freiheit. Sie ist notwendig mit

der nicht-empiristischen Begründung der Sittlichkeit und des Wis-

sens gegeben.

Daß Sokrates der Gültigkeit der Allgemeinbegriffe eine selbstän-

dige Bedeutung beilegte, daß er die Begriffe daher nicht auf die

Sinneserfahrung zurückführte, bezeugt ausdrücklich Aristoteles,

welcher von Sokrates sagt: „Er richtete als erster sein Augenmerk

auf Begriffsbestimmungen“ und war der Ansicht, „das Definieren

habe anderes zum Gegenstande, nichts Sinnliches; denn eine allge-

mein gültige Bestimmung irgendeines sinnfälligen Dinges sei un-

möglich, da sich diese ja beständig änderten“

2

. Aristoteles bezeugt

damit einen nicht-empiristischen Rationalismus des Sokrates und

eben diesen nennt man seit Kant Apriorismus. (Sokrates selbst hat

den Ausdruck und den voll entwickelten Begriff des Apriori aller-

dings nicht.) Diese Bemerkung des Aristoteles beweist auch, daß die

Unterscheidung von s i n n l i c h e r E r k e n n t n i s oder „Mei-

nung“

(

δόξα

und b e g r i f f l i c h e r E r k e n n t n i s oder

„Wissen“

έπιαιτήμη

)

die später Platon streng durchführt, schon bei

Sokrates vorhanden war. Auch die sokratische Unterscheidung von

Nichtwissen und Wissen — Sokrates sagte: „Ich weiß, daß ich nichts

1

Aristoteles: Ethica Eudemia, I, 5, 1216 b, 7; Platon: Gorgias, übersetzt von

Otto Apelt, 2. Aufl., Leipzig 1922, 460 b (= Philosophische Bibliothek, Bd 148);

Xenophon: Memorabilien, griechisch und deutsch, Leipzig 1863, III, 9,4 (= Werke,

Bd

4

).

2

Aristoteles: Metaphysik, deutsch von Eugen Rolfes, 3. Aufl., Leipzig 1928,

987 b (= Philosophische Bibliothek, Bd 2 b—3 b).

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