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[78]

α.

Notwendige und nicht notwendige Erkenntnisse

Das theoretische Hauptwerk Kantens, die „Kritik der reinen Ver-

nunft“ (1781) beginnt mit der grundsätzlichen Unterscheidung „der

reinen und empirischen Erkenntnis“, das heißt notwendiger und

nichtnotwendiger Sätze

1

. Die sinnliche Erfahrung, erklärt Kant,

„sagt uns zwar, daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß

es nicht anders sein könne“

2

, wie zum Beispiel bei den mathema-

tischen Urteilen, deren Notwendigkeit uns einleuchtet. Aus dieser

Trennung des Notwendigen von dem bloß Tatsächlichen — die

auch schon Leibniz als „Tatsachen“ und „Vernunftwahrheit“ vor-

kommt

3

— folgert Kant, daß alles, was wir als Notwendiges, All-

gemeingültiges an Einsichten in unserem Wissen finden, nicht aus

dem sinnlichen Erfahrungsstoffe stammen könne; mithin (logisch)

vor der Erfahrung sei; mithin, wie Kant sagt, a p r i o r i.

β.

Das Apriori

Die Ausführung dieses Gedankenganges bei Kant läßt sich durch

folgende Hauptpunkte kennzeichnen. Da jede Erkenntnis ein Ur-

teil ist; daß es Urteile gibt, welche allgemein und notwendig gelten;

da ferner alle Urteile Verknüpfungen, das heißt S y n t h e s e n

von Begriffen sind; und da endlich das Allgemeine und Notwendige

Philosophie vor Kant ist es wichtig zu beachten: daß Kant die Bedeutung der

Ausdrücke umkehrte. In der Philosophie vor Kant bedeutete V e r s t a n d (in-

tellectus, υούς) das höhere Vermögen, das Vermögen der Prinzipien, der Ein-

gebung (Intuition), des unmittelbaren Wissens, daher des Verstehens, des Ein-

sehens, das einsichtige Wissen; V e r n u n f t (ratio,

διάνοια, ίπιοτήμη)

dagegen:

das niedere Vermögen, nämlich das verarbeitende schließende Denken, das ver-

mittelte (nicht unmittelbare) Wissen, das Reflektieren.

Bei Kant ist es umgekehrt: der V e r s t a n d ist ihm das Vermögen der Be-

griffsbildung und der Kategorien, das vermittelte Denken; die V e r n u n f t da-

gegen „das Vermögen der Prinzipien“, oder „Ideen“ (z. B. Seele, Gott; daß

dieses Vermögen zur Eingebung im Sinne einer Ideenschau wird, leugnet Kant).

Außerdem bedeutet aber bei Kant „Vernunft“ den Inbegriff aller drei Vermögen:

der theoretischen und praktischen Vernunft und der von ihm so genannten Urteils-

kraft, das heißt der zweckrichtenden und künstlerischen Vernunft. — Überdies

stellt Kant die Sinnlichkeit der V e r n u n f t im weiteren Sinne (nämlich ein-

schließlich des Verstandes) gegenüber. /

1

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2

.

Original-

ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 1 (= Philo-

sophische Bibliothek, Bd 37 d).

2

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1926, S. 3.

3

Siehe oben S. 84.