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sittliche Gut, dann ist in ihn auch die vollkommene Gemütsverfassung, das tiefe
Gefühl, mit eingeschlossen. Zur vollkommenen Gemütsverfassung gehört überall die
vollkommene Gemeinschaft und mit ihr die L i e b e und die vollkommene Grün-
dung im Transzendenten und mit ihr die G o t t e s l i e b e . Kanten mußte in-
folge der Mängel seiner Begriffsmittel diese Grundbegriffe jeder vollendeten Sit-
tenlehre noch verschlossen bleiben. Aber dennoch war seine Zerstörung des
Utilitarismus in der Sittenlehre ein großes, für jene Zeit befreiendes und immer
gültiges Werk.
Die Subjektivität des Apriori machte Kants G e s e l l s c h a f t s -
u n d S t a a t s l e h r e für den Individualismus der Aufklärung
zugänglich, dem er eigentlich durch seine Pflichttechnik überlegen
war. Denn diese beruht auf einem bindenden Über-Dir. Aber infol-
ge der Subjektivität des Apriori kommt Kant schon in der Sitten-
lehre zur bloßen „Autonomie“ des Einzelnen, also zu einem indivi-
dualistischen Begriffe. Noch mehr im Rechts- und Staatsbegriffe.
Hier wird der autonome Einzelne dem autonomen Einzelnen ähn-
lich entgegengesetzt wie in der Vertragslehre des Naturrechtes.
Die Freiheit des einen soll „durch die Freiheit des andern möglichst wenig be-
schränkt werden“, die Folge davon ist, daß Kant diese Beschränkungen als äußer-
liche, als „h e t e r o n o m e“ Rechtssätze den sittlichen Geboten, welche Angele-
genheiten der Gesinnung, welche „ a u t o n o m“ seien, gegenüberstellt. — Nach
unserer eigenen, an anderen Stellen begründeten Ansicht dagegen wird durch die
Gemeinschaft (Gezweiung) das subjektive Recht des empirischen Ich überwunden
und in ein übersubjektives verwandelt. Wird der Einzelne als Glied des Gesamt-
ganzen der Gemeinschaft verstanden, dann bleibt die „Autonomie“ für den Ein-
zelnen zwar insofern bestehen, als er selbst es ist, der seine eigene sittliche Tat-
kraft einsetzen muß aber insofern all dies in Gemeinschaft, also gliedhaft, ge-
schieht, ist das Gesamtgeistige der Gemeinschaft, also auch das Recht, dem Inne-
ren des Einzelnen nichts Wesensfremdes, nichts „Heteronomes“. Sittlichkeit und
Recht bilden in Wahrheit eine Einheit.
g.
Verfahrenlehre
In der „Kritik der Urteilskraft“ erklärt Kant, daß wir die Natur
so ansehen könnten, „ a l s o b“ sie nach Zwecken verbunden sei,
als ob sie mit Bewußtsein und Absicht wirke. Wir könnten in
diesem Falle Verstand in ihr finden, könnten unser eigenes geistiges
Wesen in der Natur wiederfinden. In Wahrheit gehe es aber in der
Natur nicht so zu, sie wirke blind und mit Notwendigkeit. — Auch
hier zeigt sich wieder die Übergangsstellung Kantens. V e r f a h-
re n m ä ß i g ist die „Annahme als ob“ von größtem Werte, weil
damit die Alleinherrschaft des mechanisch-ursächlichen Gesetzes-
begriffes gebrochen ist. Ontologisch kann mit ihr nicht ernst ge-