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Die i n d i s c h e M a j a l e h r e (die Welt ist Schein) und die P l a t o n i -
s c h e L e h r e von dem verhältnismäßigen Nichtsein der stofflichen Welt, dem
μή όν
haben Verwandtschaft mit der Erscheinungslehre Kantens, aber die Ideen-
lehre, die
für
jene beiden gilt, rettet die Wahrheit der Erkenntnis
1
.
Z u s a t z ü b e r d i e F r a g e , o b e i n e P r ü f u n g d e s E r k e n n t n i s -
v e r m ö g e n s g r u n d s ä t z l i c h m ö g l i c h s e i
Formell gesehen, verwickelt sich Kant in den Widerspruch, die Möglichkeit
wahrer Erkenntnis in Frage zu stellen, zugleich aber vorauszusetzen, daß wir die
Fähigkeit zu erkennen, dennoch prüfen, also erkennen können. Wie jeder Skepti-
zismus, widerspricht sich auch dieser. Richtig sagt S c h e l l i n g in seiner „Ge-
schichte der neuen Philosophie“
2
: „Bei näherer Betrachtung findet sich aber, daß
es dabei [bei Kantens Versuch einer Prüfung des Erkenntnisvermögens] um ein
Erkennen des Erkennens zu tun ist, und daß dieses Erkennen des Erkennens eben
auch wieder ein Erkennen ist. Demnach bedürfte es erst einer Untersuchung über
die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis des Erkennens und so könnte man ins
Unendliche zurückfragen.“ H e g e l sagt in der „Enzyklopädie“
3
: „ . . . die Un-
tersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen... Erken-
nen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz
jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er s i c h i n s W a s s e r
w a g e.“ Ähnlich B a a d e r . — Vielleicht war auch G o e t h e s Epigramm so
gemeint:
„Was lehr ich Dich vor allen Dingen?“
„Möchte gern über meinen eigenen Schatten springen.“
Dasselbe klingt auch in den altindischen U p a n i s h a d e n an: „Durch wel-
chen er dies alles erkennt, wie sollte er den erkennen, wie sollte er doch den Er-
kenner erkennen?“
4
Dieser Einwand ist richtig, Kanten gegenüber aber insoferne zuletzt doch nicht
wirksam, als er in der „Kritik der praktischen Vernunft“ und der „Kritik der Ur-
teilskraft das Ansich ja ans Licht treten läßt, also die Möglichkeit der Erkenntnis
des Übersinnlichen selbst wieder einführt. Sieht man näher zu, so findet man, daß
sich die Erkenntnis in Wahrheit an der G e g e n s e i t i g k e i t der Begriffe,
ihrer / Gliedhaftigkeit prüft: abgeleiteterweise ferner am Gegenstande, am Sein
prüft. Indessen nur durch einen solchen Gegenstandsbegriff, der dem Erkannten
grundsätzlich das Apriori zuspricht, es als A n s i c h behandelt, ist dieser Wider-
spruch zu lösen.
Die letzte Frage der Erkenntniskritik, warum wir notwendige und nicht-not-
wendige Erkenntnisse unterscheiden müssen und wo der Grund für beide liege —
kann eben darum zuletzt nicht in der Erkenntnislehre selbst, sondern nur in der
Ontologie und Metaphysik entschieden werden
5
. In der Tat stammt das Ergebnis
1
Siehe unten S. 180 ff.
2
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Geschichte der neuen Philosophie,
Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 10, Stuttgart 1861, S. 79.
3
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissen-
schaften im Grundrisse, in 2. Auflage neu herausgegeben von Georg Lasson,
Leipzig 1920, § 10 (= Philosophische Bibliothek, Bd 33).
4
Brihad-Aranyaka-Upanishad, 2, 4, 14, nach Paul Deussen: Sechzig Upani-
shad’s des Veda, 3. Aufl., Leipzig 1921.
5
Siehe sogleich unten S. 108, ferner bei Platon und Schelling, unten S. 198 ff.
und S. 263 ff.