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macht werden. / Denn würde die Behauptung der blinden Natur-
wirksamkeit zurückgenommen: dann wäre die Gegenständlichkeit
der Natur durchsichtig, ihr Ansich nicht mehr unerkennbar.
Die große Bedeutung des Begriffes eines Apriori für die Verfah-
renlehre wurde erst in neuerer Zeit, namentlich durch H e r m a n n
L o t z e , erkannt. Es ist der Begriff der G e l t u n g (von Wahr-
heiten), anders gesagt der Begriff des W e r t e s , d e s S o l l e n s ,
der sich von dem Ursächlich-Mechanischen der empiristischen Wis-
senschaft abhebt und grundsätzlich unterscheidet
1
.
h.
Ist die „Kritik der reinen Vernunft“ mit Gelehrsamkeit überladen?
Die zum Teil weitläufige Gelehrsamkeit, welche Kant noch nach Erledigung
der Kategorienfrage in der „Kritik der reinen Vernunft“ entfaltet, kann hier
nicht stillschweigend übergangen werden. Denn teils begründete sie die starke
wissenschaftliche Stellung Kantens in der damaligen rationalistischen, wissen-
schaftsdurstigen Zeit, teils zog sie ihm jene Abneigung zu, welche wir unter ande-
rem bei Goethe finden oder welcher Nietzsche Ausdruck gab, als er in seiner ket-
zerischen und dilettantischen Art Kant einen „Begriffskrüppel“ nannte.
Unseres Erachtens entspricht jene Gelehrsamkeit der Mittelstellung Kantens
zwischen Empirismus und echtem Idealismus. Statt mit der Ableitung des Selbst-
bewußtseins die Erkenntnistheorie im Wesentlichen abzuschließen, beschwert sich
die Vernunftkritik mit Erörterungen, die als Einzeluntersuchungen anderen Ge-
bieten, besonders der rationalen Psychologie und der Logik, angehören, und die
als solche auch die Mängel einzelwissenschaftlicher Analysen in sich tragen.
α.
Schon die Frage: „ W i e s i n d s y n t h e t i s c h e U r t e i l e a p r i o r i
m ö g l i c h ? “ — die so viele mühsame Gelehrsamkeit gleich anfangs in die Unter-
suchung bringt, ist meines Erachtens fehlerhaft! Steht es doch nach Kant selbst
fest, daß auch bei den analytischen Urteilen die Kategorien unentbehrlich sind
und ohne ihre „apperzeptive Synthesis“ (um mit Kant selbst zu sprechen) auch
hier ohne sie keine Sicherheit und Allgemeingültigkeit möglich wäre. Auch fragt
es sich: warum soll nicht auch in der Analysis einer Sache über das jeweilige sinn-
lich Gegebene hinausgegangen werden können? „ G e g e b e n “ i s t j a i m
s t r e n g e n S i n n e n i c h t s ; auch das Gegebene ist, gerade nach Kant,
schon t ä t i g aufzufassen, ist uns vielmehr a u f g e g e b e n als gegeben;
denn es ist stets kategorial geformt, z. B. (nach Kant) als „Substanz“, „Akzidens“,
„Ursache“, also schon s y n t h e t i s c h bestimmt!
Gilt aber der Satz: Jedes analytische Urteil ist nur durch Synthesis a priori
möglich, ein rein analytisches Urteil gibt es nicht; dann folgt daraus, daß
a u c h d a s a n a l y t i s c h e U r t e i l E r w e i t e r u n g s s ä t z e
a p r i o r i e n t h a l t e n k ö n n e , soweit es sich nämlich um die in ihm enthaltenen
apriorischen Bestandteile handelt (die durch Analysis ermittelt werden). Auf diese ist
doch offenbar bereits das analytische Urteil „ a l l e Körper sind ausgedehnt“
2
1
Siehe oben S. 76 f.
2
Siehe oben S. 91 f.