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gegründet, denn die (materiale) Erfahrung ermöglicht nur das Urteil: „dieser
Körper ist ausgedehnt“. Die V e r a l l g e m e i n e r u n g geht bereits gerade
nach / Kant selbst auf die Tat (Synthesis) des Verstandes zurück, gewisse an-
schauliche Eindrücke stets räumlich aufzufassen — auf eine apriorisch-synthetische
Tat!
Wir behaupten daher, daß das synthetische Urteil nicht grundsätzlich vom
analytischen Urteile verschieden sei. Das formell synthetische („erweiternde“)
Urteil ist vielmehr sachlich ebenfalls nur analytisch, es enthält nämlich nur die
Analysis eines weiteren, höheren Begriffszusammenhanges: Das „synthetische Ur-
teil a priori“ A ist B verwandelt sich auch formell in ein analytisches, sobald ich
den allgemeineren Begriff C ins Auge fasse, von dem beide im Urteil verbunde-
nen Begriffe (A und B) Glieder sind. Das synthetische Urteil „a priori“ ist, so
kann man es ausdrücken, nichts anderes als der S c h l u ß vom Gliede (A) auf
das Ganze (C), aus welchem eine Eigenschaft (B) abgeleitet wird, und sohin auch
aus dem Ganzen (C): „ A u f das Ganze“ oder auf weitere Zusammenhänge ist
synthetisch; „ a u s dem Ganzen“ ist analytisch. Zwischen beiden besteht kein
grundsätzlicher Unterschied.
β.
Eine Belastung des Kantischen Werkes mit Gelehrsamkeit scheint mir auch
manches aus der Vernunftlehre im engeren Sinne. Da ist zunächst der „ S c h e -
m a t i s m u s der reinen Verstandesbegriffe“, welcher die Vermittlung von Ka-
tegorie (Form) und Empfindungsstoff erklären soll, aber in Wahrheit willkürlich
bleibt. (Die Qualität soll zum Schema die „Zeitreihe“, die Qualität den „Zeit-
inhalt“ haben und so fort.)
Ähnliches gilt von der „Analytik der Grundsätze“ des reinen Verstandes, so-
fern Kant diese nach den (doch offenbar falschen) Kategoriengruppen der Quan-
tität, Qualität, Relation und Modalität ableitet, die er das eine Mal „Axiome“
(Quantität), das andere Mal „Antizipationen“ (Qualität), dann wieder „Analo-
gien“ (der Erfahrung, nämlich Substanz und Kausalität) und schließlich „Postu-
late“ nennt. Wie gefährlich die Fremdwörterei selbst für den schöpferischen Geist
ist, zeigt sich hier deutlich. Deutsche Ausdrücke hätten in ihrer natürlichen Klar-
heit die Gewaltsamkeit jener Unterscheidungen, und, was an ihnen hängt, leich-
ter offenbar werden lassen.
γ. Belastend sind unseres Erachtens auch in der „D i a
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e k t i k“ die angebli-
chen Schlüsse der Vernunft über die Erfahrung hinaus: Kategorisch: Seele; hy-
pothetisch: Weltganzes; disjunktiv: Gott; sowie die darin beschlossene un-
glückliche Behandlung des Begriffes „f d e e“. Schon infolge der falschen Kate-
gorieneinteilung: Quantität, Qualität usw., die Kant jedesmal zur Grundlage
seiner Unterscheidungen macht, muß bei allem Aufwande an Geist das meiste
fehlerhaft ausfallen, was Kant hier vorzubringen weiß. Liegt es doch am Tage,
daß der Gottesbegriff, die Gottesbeweise, der Seelenbegriff, der Weltbegriff
nicht im Begriffszusammenhange einer Erkenntnistheorie ihre Stelle haben und
auch der Beweis nicht gelang, daß sie bloß Erweiterungen der B e g r i f f s Ver-
hältnisse zu I d e a l Verhältnissen wären.
Freilich war gerade die s k e p t i s c h e Haltung, die Kant in diesen Stellen
einnimmt — bekanntlich wird das in der „Kritik der praktischen Vernunft“ einge-
holt — mit ein Grund des Erfolges seiner Lehre in der damaligen Geisteslage der
Zeit. Ihr waren darum gerade auch diese gelehrten Künsteleien an der „Kritik
der reinen Vernunft“ von Wert.
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