[99/100]
117
Es war eine der größten Leistungen des deutschen Geistes in der
Geschichte, daß der alte naturrechtliche Individualismus in der nach-
kantischen Philosophie zerstört und eine universalistische, eine or-
ganische Staatsauffassung an seine Stelle gesetzt wurde. Man be-
zeichnet diesen Vorgang oft als die „Wiedergeburt der antiken
Staatsidee“, aber nicht mit Recht. Denn die neue universalistische
Idee von Staat und Gemeinschaft wurde aus anderen Vordersätzen
abgeleitet. K a n t vernichtete den Empirismus und Rationalismus
der englisch-französischen Auf-/ klärung, blieb aber in der Sitten-
und Staatslehre doch noch im Individualismus befangen, da er nur
die sittliche Selbstbestimmung des Einzelnen zeigte. F i c h t e ließ
jene Selbstbestimmung bestehen, überwand aber den Begriff des
geistig sich selbst genügenden Einzelnen und setzte zum Teil schon
den des lebendigen, schöpferischen Ich- und Du-Verhältnisses an
seine Stelle. Das gelang ihm, indem er den Menschen e r k e n n t -
n i s t h e o r e t i s c h nicht als Einzelnen, sondern als Glied einer
Vielheit, das heißt geistiger Wechselseitigkeit faßte. „ ... sollen Men-
schen überhaupt sein, so müssen mehrere sein“, sagte Fichte. „Sobald
man den Begriff des Menschen v o l l k o m m e n b e s t i m m t ,
w i r d m a n v o n d e m D e n k e n e i n e s E i n z e l n e n a u s
g e t r i e b e n z u r A n n a h m e e i n e s z w e i t e n , u m d e n
e r s t e n e r k l ä r e n z u k ö n n e n . “
1
— Fichtes Nachfolger, Schel-
ling, Hegel, Baader, Schleiermacher, Krause, haben diesen Gemein-
schafts- und Staatsbegriff philosophisch fortgebildet, während No-
v a l i s in der denkwürdigen Schrift „Die Christenheit oder Europa“
(1799) zum ersten Male auf seiner Grundlage die politische und ge-
schichtliche Haltung mit intuitiver Sicherheit vorzeichnete.
1.
W e s e n d e r R o m a n t i k u n d d i e r o m a n t i s c h e
S c h u l e
Die neue Philosophie forderte ein neues Kulturbewußtsein, der
Ausdruck derselben war die R o m a n t i k . Die Romantik war nie
eine bloße Kunstrichtung, sie war von Anbeginn eine Kulturbewe-
gung!
Sie begann allerdings vornehmlich als Kunstrichtung. Die Brüder
Schlegel, Novalis, Tieck, Achim von Arnim, Brentano, E. T. A.
Hoffmann, Eichendorff gehörten ihr an. Ihr Wesen ist aber ganz
1
Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien
der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig 1796, S. 47 (Sämtliche Werke,
Bd 3).