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Erkenntnistheorie zusammen. Der alte Grundsatz „Gleiches wird
durch Gleiches erkannt“, wird von Eckehart auf die Gotteserkennt-
nis angewendet: „Gott wird durch Gott erkannt in der Seele.“
1
Auch der dazugehörige Gedanke, daß der menschliche Geist alle
Ideen (Begriffe, Wesenheiten) in sich habe, wird von der Mystik
ebenso ausge- / sprochen wie von den idealistischen Philosophen.
Nach Platon ist die Seele der „Ort der Ideen“ und hat sie durch
frühere Schaukraft der Erinnerung in sich. Nach Aristoteles ist die
Seele „gleichsam alle Dinge“
2
. Daß die Seele Inbegriff aller Dinge
ist, folgt, wenn man es zu Ende denkt, aus der urmystischen Lehre
von der zentralen Stellung des Menschen in der Welt. Ebenso aber
auch aus der Lehre von der Göttlichkeit des Seelengrundes. Ist der
Mensch Mitte der Welt und zugleich im Seelengrunde von göttlicher
Art, dann trägt die Seele alles in sich, was ist. Darum wird bei Mei-
ster Eckehart das „gleichsam alle Dinge“ des Aristoteles aus der un-
begrenzten Schöpferkraft des Fünkleins erklärt: „Da Gott schuf alle
Kreaturen, hätte da Gott nicht geboren etwas, das ungeschaffen
wäre, das in sich getragen hätte die Bilder aller Kreaturen: das ist
der Funke, der ist Gott also nahe, daß er ist ein einig Ein unge-
schieden und das Bild in sich trägt aller Kreaturen, sonder Bilder und
über Bildern“, die Welt wäre nicht geschaffen worden
3
.
Auf einen anderen wesentlichen Punkt aller mystischen Erkenntnislehre, auf
den wir hier nicht näher eingehen können, nämlich, daß ich erkenne, sofern ich
durch Gott erkannt werde („cogitor ergo cogito“), sei hier nur der Vollständigkeit
wegen hingewiesen
4
.
E.
G e s e l l s c h a f t s l e h r e , S e e l e n l e h r e ,
S i t t e n l e h r e
Die Gesellschaftslehre der Mystiker ist aus Gründen, die wir
schon würdigten, begrifflich wenig entwickelt. Aber die Richtung
ihrer Gesellschaftsauffassung ist überall dieselbe: Abstufung, Glie-
derung, Ungleichheit der Menschen, Führung aus Sehertum, Aner-
1
Meister Eckhart, S. 37, Zeile 31.
2
Siehe oben S. 247.
3
Meister Eckhart, S. 286, Zeile 16.
4
Meister Eckhart, S. 38 ff.