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Ist D i l t h e y s t e c h n i s c h e U m f o r m u n g d e s s o -
z i o l o g i s c h e n P r o b l e m s b e w e i s b a r u n d h a l t b a r ?
Dilthey rechtfertigt seine neue Aufteilung des entwicklungs-
geschichtlichen Problems der Soziologie an die Einzelwissenschaften
und Geschichtswissenschaft vor allem mit dem technisch-praktischen
Argumente, daß es die menschliche Anschauungskraft übersteige, die
geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit aus der unmittelbaren
Gesamtanschauung, entweder (a) der Beziehungen zwischen den
Formeln des Status societatis oder (b) der Kausalbeziehungen,
welche die Entwicklungsveränderungen des Zusammenhanges der
Gesellschaft hervorbringen — zu begreifen. Hingegen soll der mit
der Umteilung des Problems gegebene mittelbare Weg seiner wenig-
stens annähernden Lösung wesentlich mittels der erkenntnistheore-
tischen Grundlegung der Einzelwissenschaften ermöglicht werden.
Die eigentliche Begründung der technischen Umformung geschieht
sonach mittels der erkenntnistheoretischen. Schon aus dieser Rück-
sicht kann die andere, auf die Unzulänglichkeit der menschlichen
Anschauungskraft gestützte, sozusagen praktische Begründung, zu-
rückgestellt werden. Indessen bedarf es dieser gegenüber nur eines
Hinweises auf die Tatbestände der Wissenschaft. Diese hat in mehr-
fachen geschichtsphilosophischen Versuchen, in der dialektisch-öko-
nomischen, in der biologischen und anderen Auffassungen hinläng-
liche Beispiele der technischen Möglichkeit gegeben, aus unmittel-
barer Auffassung des Problems heraus eine Festlegung der dynami-
schen Gesamtbeziehungen der Gesellschaft zu erlangen. Da es sich
dabei naturgemäß um eine Reduktion der Kausalbeziehungen auf
ein P r i n z i p handelt, kommt die Leistungsfähigkeit der mensch-
lichen Anschauungskraft in dieser letzten logischen Beziehung nicht
mehr in Frage.
Um zu erkennen, in welcher Weise Diltheys erkenntnistheoreti-
sche Auffassung zur Stütze seiner technischen Umgestaltung wird,
haben wir sie ausführlicher darzulegen. Für Dilthey ist die Erkennt-
nis des Ganzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht prinzipiell
und gänzlich unerreichbar, aber es bedarf vorher einer erkenntnis-
theoretischen Selbstbesinnung. Aus der N a t u r d e s P r o -
b l e m s , welches die gesellschaftliche Wirklichkeit dem menschli-
chen E r k e n n e n stellt, müssen die Verfahrensweisen „die
Kunstgriffe vermöge deren dasselbe sich in sie (die gesellschaftliche