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auf geisteswissenschaftlichem Gebiete
1
. Es handelt sich weniger um
die Eigenart des Stoffes, sondern um die logische Tat des Verstandes.
Daß diese aber dem Tatbestande der „inneren Erfahrung“ gegen-
über nomothetischer Natur zu sein vermag, daß also ein kausal-
theoretisches Erkenntnis z i e l möglich ist, ist zweifellos
2
.
Der eigentliche Schwerpunkt der Diltheyschen Kritik der Sozio-
logie liegt indessen nicht in der Verneinung ihrer M e t h o d e ,
sondern in der Verneinung ihrer Art, sich ihr P r o b l e m zu stel-
len und es aufzufassen. Wir müssen an dieser Verneinung der Pro-
blemstellung zweierlei auseinanderhalten:
1. Dilthey behauptet, man könne entwicklungsgeschichtlich den
Gesamtzusammenhang der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit
nicht unmittelbar aus der Gesamtanschauung dieser Wirklichkeit er-
kennen, sondern nur d u r c h s e i n e A u f l ö s u n g i n E i n -
z e l z u s a m m e n h ä n g e (näher: Anwendung der sozialen Ein-
zelwissenschaften in der Geschichtswissenschaft) seine Erkenntnis
wenigstens annäherungsweise erreichen
3
. Wir nennen diese noch
1
Ich setze mich damit mit meiner eigenen Theorie, wonach die Begriffe der
Sozialwissenschaft Funktionalbegriffe sind, nicht in Widerspruch, denn der prin-
zipielle Charakter des Funktionalbegriffes ist kausaltheoretisch, nomothetisch.
Vgl. meine Abhandlung: Zur Logik der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung,
in: Festgabe für Friedrich Julius Neumann, Tübingen 1905, S. 169 f.; und meine
Schrift: Der logische Aufbau der Nationalökonomie und ihr Verhältnis zur Psy-
chologie und zu den Naturwissenschaften, in: Zeitschrift für die gesamte Staats-
wissenschaft, Bd 64, Tübingen 1908, Kapitel II.
2
Uber die Abhängigkeit der Begriffsbildung vom Objekt neuestens F r i e d -
r i c h v o n G o t t l - O t t l i l i e n f e l d (Zur sozialwissenschaftlichen Begriffs-
bildung, 2. Artikel, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd 24,
Tübingen 1907). Wie übrigens Gottl (Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung,
1. Artikel, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Tübingen 1906)
nachgewiesen hat, ist das t h e o r e t i s c h e (auf das Generelle, Typische ge-
hende) E l e m e n t g a r n i c h t a u f d a s n o m o t h e t i s c h e („naturwis-
senschaftliche“) D e n k e n b e s c h r ä n k t . Vielmehr ist es auch in der das In-
dividuelle betreffenden (idiographischen, historischen) Beschreibung notwendig
enthalten!
3
Dilthey formuliert dies folgendermaßen: Ein Entwicklungsgesetz der Gesell-
schaft „müßte entweder die Beziehung zwischen Formen enthalten, deren jede
einzelne den Inbegriff eines bestimmten Status societatis ausdrückte und deren
Vergleichung sonach das Gesetz des Gesamtfortschrittes ergeben würde; oder
eine solche Theorie müßte in einer Formel den Inbegriff aller Kausalbeziehungen
ausdrücken, welche die Veränderungen innerhalb des Totalzusammenhangs her-
vorbringen. Es braucht nicht entwickelt zu werden, daß die Ableitung einer For-
mel der einen wie der anderen Art aus der Gesamtanschauung der geschichtlich-