92
[101/102]
gestalt zur Einzelgestalt z e r g l i e d e r n d , a n a l y t i s c h , um-
gekehrt der Rückgang vom Gliede auf das Ganze w i e d e r a u f -
b a u e n d , s y n t h e t i s c h ist. Und wie es in der Forschung in
Wahrheit keine „Induktion“ gibt
1
, so auch nicht in der künstleri-
schen Tätigkeit. Schöpfertum tritt bei beiden an die Stelle der
Induktion.
Im Hinblicke auf die Vollkommenheiten der Eingebung und
Verarbeitung drängte sich uns schon früher die grundsätzliche
Entsprechung zu T i e f s i n n und S c h a r f s i n n auf
2
. Was in
der Wissenschaft Tiefsinn und Scharfsinn trennt, das trennt in der
Kunst S c h ö p f e r k r a f t u n d G e s c h i c k l i c h k e i t , das
heißt technisches Können („Mache“ im guten Sinne des Wortes);
oder anders ausgedrückt: entspricht dem Unterschiede von Tief sinn
und Scharfsinn der von h o h e r K u n s t u n d K u n s t h a n d -
w e r k , dessen Steigerung das V i r t u - / o s e n t u m ist, das
man zu deutsch Ü b e r - M a c h e nennen könnte. Ubermache kann
allerdings zweifach verstanden werden: für den schaffenden Künst-
ler, wenn sie Eingebung vortäuschen soll; für den bloß wiederholen-
den Künstler dagegen (z. B. den Geigenspieler, Schauspieler) als
überkünsteltes, nur übersteigertes Können. Ubermache und Kunst-
handwerk können in der wiederholenden Kunst selbständig auftre-
ten, in der Wissenschaft dagegen weniger selbständig, nämlich nur
in der Form der S c h r i f t s t e l l e r e i u n d F e u i l l e t o -
n i s t i k. Das hängt damit zusammen, daß die verschiedenen Stoff-
lichkeiten, in denen die Kunst und die wiederholende Ausführung
ihrer Werke sich bewegen, dem rein Handwerklichen ein weit grö-
ßeres Feld öffnen. Daher denn auch in der Kunst infolge der langen
Handwerksübung, die sie erfordert (man denke nur an Bildhauer
und Maler) weit mehr das Wort „vita brevis, ars longa“ gilt als in
der Wissenschaft.
An die Entsprechung zwischen Tiefsinn — Scharfsinn, Schöpfer-
tum — Mache schließt sich die Entsprechung zwischen schlecht pas-
sender Z u s a m m e n w a h l oder E k l e k t i z i s m u s in der
Wissenschaft und K l i t t e r u n g o d e r S t i l m e n g e r e i in
der Kunst; ferner die allgemeineren Entsprechungen zwischen:
1
Siehe oben S. 74.
2
Vgl. oben S. 69.