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Sinnenleben. In der Eingebung liegt zugleich das Irrationale be-
schlossen, das auf dem Grunde des verständigen Denkens in der
Wissenschaft wie des formalen Gestaltens in der Kunst zu finden
ist. Kraft dieses Irrationalen ist Eingebung die Grundlage jedes
lebenskräftigen Geschehens in Denken, Gestalten, Wollen und Han-
deln. Das gilt auch von den Völkern und ihren Geschicken. Da der
Volksgeist als solcher kein Dasein hat, ist er jedoch auf den Ein-
zelnen angewiesen.
Die Eingebung ist der schaffende Quell alles geistigen Lebens.
Aus sich selbst muß die Quelle des Geistes kommen. Aber allerdings
ist sie an die Bedingung der Gezweiung geknüpft. Daher ist das
Mitdabeisein des anderen Geistes unerläßliche Voraussetzung der
Eingebung wie auch ihrer Verwertung. Die äußeren Dinge (sinn-
liche Empfindungen) sind dagegen nur Darbietungen von Anre-
gungen und Mitteln.
Das Verhältnis von Sinnesempfindung und Eingebung ist zu
vergleichen dem des Nahrungsstoffes zu dem die Nahrung ergrei-
fenden Leben. Jeder Organismus muß sich die Nahrung tätig an-
eignen. Nicht das Einflößen der Nahrung macht schon Ernährung,
sondern erst die Aneignung des Nahrungsstoffes. So ist auch die
Eingebung das Leben des Geistes. Sie ergreift die Sinneseindrücke
wie Mittel und Stoff der Nahrung, eignet sie sich an und schaltet
mit ihnen. Von hier aus versteht man dann, daß die Aneignung
der sinnlichen Eindrücke überhaupt erst auf Grund schon erfolgter
Eingebung möglich ist (sie hat die Rolle des „Intellectus agens“, des
aktuierenden Verstandes des Aristoteles und der Scholastiker
1
). /
Ganz allgemein gilt daher im genauen Gegensatze zum Sensualis-
mus: Die Aneignung äußerer Erfahrungen kann nur stattfinden
auf Grund schon erreichter Geisteshöhe.
Beweis dessen ist im entwickelten Geiste die ungeheure Frucht-
barkeit einer Eingebung sogar für die äußere Beobachtung. Dinge,
die früher nicht gesehen wurden, die unbeachtet an uns vorüber-
gingen, werden nun erst aufgefaßt, beobachtet, sie erhalten jetzt
erst ihre Bedeutung.
Darum ist die Eingebungskraft in Wahrheit auch das, was man
oft mit dem unklaren Worte „P h a n t a s i e“, der sinnlichen
1
Vgl. oben S.
22,
36 f., 59 und 62 ff.