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kann das Kunstwerk entstehen — was der Naturalismus völlig ver-

kennt —, sondern aus innerer Erbildung ihres Wesensgrundes in

der Eingebung.

Demgemäß kann man als Entsprechung aufstellen: Herrscht in der

Wissenschaft das I c h - G e g e n s t a n d - V e r h ä l t n i s , so i n /

der Kunst das I c h - G e s t a l t e n - V e r h ä l t n i s . Aber im

Gegenstande (Objekt) liegt die Entgegensetzung zum Ich; in der

Gestalt dagegen wieder ein Einheitsverhältnis

1

. Daher tritt in der

Kunst die Eingebung deutlicher als überindividuelle Idee hervor

als in der Wissenschaft. Gewiß steht auch hinter der Eingebung

des wissenschaftlichen Gegenstandes das Überindividuelle, Ideen-

hafte, aber es tritt hier nicht in gleicher Einheit mit dem Geiste

wie in der Kunst hervor.

An diesen Entsprechungen des Wahrheits- und Schönheitsbegrif-

fes, die wohl einleuchten, zeigt sich wieder die Richtigkeit unserer

Auffassung. Mit den beiden Begriffsbestimmungen: schön ist die

als Gestalt gefaßte Eingebung und ihre Fortgliederung in Unter-

Gestalten nach durchgängiger Ebenbildlichkeit im Kunstwerke;

wahr ist die als Gegenstand gefaßte Eingebung und ihre durch-

gängige Fortgliederung in Untergegenstände im Begriffe — sind

sowohl Gleichheit wie Unterschied von Kunst und Wissenschaft

umschrieben.

Darum sammelt sich der menschliche Geist im Anblicke der

Wahrheit sowohl wie der Schönheit zu einem Zustande höherer

Ordnung, dem ähnlich, in welchem die Eingebung des Denkers und

Künstlers den inneren Wesenskern des Dinges erzeugte.

Die U n t e r s c h i e d e v o n K u n s t u n d W i s s e n -

s c h a f t , demgemäß von Denklehre und Gestaltenlehre, liegen

über die schon angegebenen hinaus wesentlich darin: daß in der

hohen Kunst die Eingebung allgemeiner in den Grund der Dinge

vordringt und daß sie das Individuelle in höherem Maße mit zur

Aufgabe der Gestaltung macht als in der Wissenschaft. Daß freilich

die Wissenschaft das Allgemeine, die Kunst (und die Geschichte)

das Individuelle beträfe, das ist unrichtig, wie ich an anderer Stelle

ausführlich nachwies

2

. Auch die Wissenschaft hat das Individuelle

1

Darüber mehr unten S. 159.

2

Zur Grundlegung einer ganzheitlichen Logik, in: Kämpfende Wissenschaft.

Jena 1934, S. 146 ff. und 150 ff. Vgl. auch oben S. 68 und 73 f.