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mit elementarer Notwendigkeit sich als Empfindungen aufdrängen
und die auffassenden wie gestaltenden Kräfte des höheren geistig-
seelischen Lebens an sich ziehen. Je mehr sich innere Sinnesempfin-
dungen und Triebe dem Instinktiven, dunkel Bewußten oder Un-
bewußten nähern, umso mehr ist das höhere Geistesleben mit seiner
vergegenständlichenden und gestaltenden Leistung davon ausge-
schlossen. Dafür muß b) eine mittelbare Einwirkung der höheren
Geistestätigkeiten durch Selbsterziehung und Meisterung der inne-
ren Sinnlichkeit eintreten, auch über den Umweg äußerlicher Ein-
wirkungen auf den Leib (z. B. durch Leibesübungen, Kuren) und
auf die Umwelt (Ausschaltung oder Herbeiführung bestimmter
Reize und Lebensbedingungen).
Die Bedeutung des Geistes für die Sinnesempfindung zeigt sich
insbesondere bei den außerordentlichen Empfindungen, so in hyp-
notischen Zuständen und beim Hellsehen. Doch begnügen wir uns
hier mit diesem Hinweise.
Wesentlich ist überall, daß der Geist, soweit er in die Sinnlichkeit
eingreift, nicht nur diese selbst erst formt, sondern auch das in den
höheren Bewußtseinsstufen Ausgegliederte in der Sinnlichkeit in-
haltlich wieder zur Geltung, zur Auswirkung bringt. Auf den oben
geschilderten Wegen ist es Glaube, Liebe, Wissen, Gestaltung, Wol-
len und Handeln, welches in die Sinnlichkeit eindringt und sie mit-
bestimmt.
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Alle jene Lebensgestaltungen und Lebensordnungen, welche von der Religion,
der Gemeinschaft, der Wissenschaft, der Kunst und den mannigfachen Systemen
des Handelns auf die Sinnlichkeit übergehen, legen geschichtliches Zeugnis dafür
ab, in welcher Weise der Geist seinen Seinsgehalt noch in der Sinnlichkeit zur
Auswirkung bringt. Die Systeme der Familie z. B., wie wir sie als Einehe, Vielehe,
Mutterrecht, Vaterrecht, Großsippe usw. aus Geschichte und Völkerkunde kennen,
zeugen stets von bestimmten Einwirkungen der höheren Geistesinhalte auf die
geschlechtlich-sinnliche Seite des Lebens.
Ebenso erweisen sich die
„Bedürfnisse“
nicht, wie die herkömmliche Lehre
will, als eindeutig an den Ablauf der leiblichen Verrichtungen geknüpft, wodurch
sich besonders Nahrung, Wohnung, Kleidung, Heizung angeblich bestimmen
(entsprechend
dem
„Ernährungsbedürfnisse“,
„Wärmebedürfnisse“
und
ähn-
lichem). Vielmehr zeigen uns Geschichte und Erfahrung ein ganz anderes Bild.
Die chinesische, indische, ägyptische, griechisch-römische, mohammedanische Kul-
tur weisen jeweils andere Lebens-, Wohn- und Bekleidungsbedürfnisse auf. Das
Gesamtganze einer Kultur, das heißt der Gesamtzusammenhang geistig bestimm-
ter Z i e l e , ist es, welcher auch die einfachsten, leiblich so unmittelbar mit-
bestimmten Ziele der Ernährung, Bekleidung, Wohnung und Heizung — das sind
vom wirtschaftlichen Standpunkte aus die wichtigsten Posten in den meisten