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Die Frage ist, ob in den höheren Stufen der Ausgliederungs-
ordnung die Eigentümlichkeit des Ich zunimmt oder ob sie infolge
der Allgemeingültigkeit ihrer Inhalte abnimmt.
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Eine unbefangene Betrachtung lehrt, daß die Kraft der Ichheit,
die Ausprägung der Selbstheit stufenweise wächst. Richtig ist, was
Hegel so eindringlich hervorhebt, daß die zufälligen persönlichen
Eigenschaften, Triebe, Begierden, Einfälle überwunden und immer
mehr in das A l l g e m e i n e hinein- und umgebildet werden
müssen. Die Zufälle der Triebe, sagt Hegel, müssen ins Allgemeine,
in Sittliches umgebildet werden. Die „M a r o t t e d e s S e l b s t -
d e n k e n s “ muß überwunden werden, das Denken muß in das All-
gemeine, Wahre Vordringen
1
. Dann denkt jeder dasselbe, nicht
jeder etwas anderes.
Diese durchgängige Läuterung der Bewußtseinsinhalte im Sinne
der Allgemeingültigkeit ist aber nicht — wie z. B. Schopenhauer
und Hartmann lehren — als Untergehen der Persönlichkeit in
einem individualitätslosen Weltgeist oder blinden Willen zu fas-
sen. In Wahrheit ist sie ein Vollkommenheitszeichen ihrer Ent-
faltung. Sie bedeutet keinen Abbruch an Selbstheit, an Individuali-
sierung. D e n n n u r m i t g e s t e i g e r t e n i c h h a f t e n
K r ä f t e n k a n n z u j e n e n h ö h e r e n A l l g e m e i n h e i -
t e n v o r g e s t o ß e n w e r d e n . Darum sehen wir auch die
ichhaften Unterschiede zwischen hochentwickelten Menschen mehr
ausgebildet als zwischen einfachen Menschen — trotzdem gerade sie
in höchstem Maße dasselbe denken, dieselben höchsten Wahrheiten
als kulturbegründende je in ihrer Weise aussprechen. Das zeigen
z. B. die Unterschiede zwischen Goethe und Schiller, Goethe und
Kleist, Kleist und Novalis, Mozart und Beethoven, Platon und
Aristoteles, Meister Eckehart und Thomas, Fichte, Schelling und
Baader, Schelling und Hegel.
Das ist das Große und Geheimnisvolle im Menschen, daß er als
Eigener, als Persönlichkeit, den Inhalt des Geistes in sich erzeugt
und, was er auf diese Weise gewonnen, nichts Geringeres als sich
selbst, dem Ganzen wieder darbringt.
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1
Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
Heidelberg 1817, § 469 ff. und öfter.
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