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VI.
Die Art des Menschen
Seine Ebenbildlichkeit und Verfinsterung
Die Vollkommenheiten des menschlichen Geistes weisen uns am
deutlichsten darauf hin, welcher Art er sei. Die Unvollkommen-
heiten hinwieder zeigen uns die tatsächlichen Störungen und Zerrüt-
tungen an, die ihm anhaften.
Wählen wir aus den früher bei verschiedenen Gelegenheiten ent-
wickelten Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten jene her-
aus, die für unseren Zweck besonders lehrreich sind, so ergibt sich
etwa folgende Tafel. Wir bemerken noch dazu, daß keine einzige
der anderen in dieser Tafel nicht genannten Vollkommenheiten oder
Unvollkommenheiten einen Widerspruch zu dem Bilde begründen
würde
1
.
Betrachten wir die Vollkommenheiten des menschlichen Geistes,
so zeigt er sich als Tätigkeit schlechthin (Actus purus), vollkommen
gesammelt, unermüdlich und vollkommen erweckt: Das B i l d
d e r V o l l k o m m e n h e i t e n d e s m e n s c h l i c h e n G e i -
s t e s g l e i c h t s e h r d e m B i l d e G o t t e s , d a s d i e
m e n s c h l i c h e V e r n u n f t v o n i h m e n t w i r f t .
Da dieses Bild Gottes nicht willkürlich, sondern aus strenger,
sachlicher Wesensanalyse sich ergibt, so zeigt sich daran nichts
Geringeres als die G o t t e b e n b i l d l i c h k e i t d e s M e n -
s c h e n , s e i n e m r e i n s t e n , i n n e r s t e n W e s e n n a c h .
Der Mensch ist theomorph.
Die alte Weisheit wird wieder lebendig, daß der Mensch Gott im
kleinen,
μοκρόθεος
,
sei. Erst als
μοκρόθεος
wird er, indem er dadurch
an die Spitze der Natur gestellt und ein Auszug aller Naturkräfte
ist, auch
μικροκόσμος
,
die Welt im kleinen.
Es ist ein betrübliches Zeichen des Geisteszustandes unserer Zeit,
daß der Begriff der Göttlichkeit unserer Natur in ihr nicht leben-
dig ist. Ja, er scheint ihr so unerschwinglich, daß / man darin nur
eine biblische Schwärmerei erblickt, die nicht ernst zu nehmen
wäre. Aber die Mystiker aller Zeiten, und nicht nur die christlichen,
1
Siehe unten S. 355.