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U n v o l l k o m m e n h e i t e n
u n s e r e s G e i s t e s :
1.
Zerstreutheit,
Ungesammeltheit;
satt, träge; schwache Eingebung
und unrichtige Verarbeitung
2.
Übersinnliches Bewußtsein: Glau-
bensvermengungen
3.
Gezweiungsbewußtsein:
Gemüts-
stockung (Gemeinschaftslosigkeit)
4.
Auseinanderfallen von E r k e n -
n e n u n d K ö n n e n , Wissen
und Haben (Sein)
5.
Irrtümer im Denken (das Un-
wahre)
6.
Unvollkommenheiten im Gestal-
ten (das Häßliche)
7.
Irrtümer,
Unstetigkeit,
Wesens-
widrigkeit in Wollen und Han-
deln
8.
Geistesermüdung, darunter insbe-
sondere:
9.
Das Vergessen und das Unver-
mögen, im Gedächtnis alles wie-
derherzustellen
10.
Schlaf und Traum als Unterbre-
chung des klaren Bewußtseins-
lebens. — Andere Bannzustände
V o l l k o m m e n e r w e i s e
w ä r e d a n n u n s e r G e i s t :
1.
Vollkommen gesammelt auf emp-
fängliche; auf verarbeitende Weise
2.
Leben in Gott
3.
Liebesdurchdringung
4.
Das Erkannte auch besitzend
(seiend) und ausführend — das
heißt:
s c h a f f e n d e s E r -
k e n n e n u n d E r s c h a f f e n
w ä r e E i n s (was dem Men-
schen aber nur in der Kunst zum
Teil erreichbar ist). Unser Geist
wäre Actus purus (wozu ihm die
Ansätze in hohem Maße gegeben
sind)
5.
Von Irrtum frei — nur Wahrheit
denkend
6.
Von Häßlichkeit frei — nur Schö-
nes schaffend
7.
Reines Wollen, unbedingte Kraft
des Handelns (siehe Nr. 4)
8.
Unermüdlich
9.
Unvergessend (stets gegenwärtig)
10.
Nie schlummernd, stets unge-
schwächten, vollkommen erweck-
ten Geistes
/
hegten diese Ansicht. Wie kamen sie dazu? Sie schöpften sie aus
Erlebnissen. Meister Eckehart sagt:
„ ... da trägt die Seele das göttliche Bild und ist Gott gleich
1
.“
„ ... so ist er [der Mensch] wahrlich dasselbe von Gnaden, das Gott
ist von Natur, und Gott kennt... keinen Unterschied zwischen ihm
und diesem Menschen
2
.“ „Sofern... kein Schatten ist an dem
Menschen, sofern gleichet er sich göttlichem Wesen
3
.“ „ ... er [Gott]
23*
1
Meister Eckhart, hrsg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 68, Zeile 10 f.
2
Meister Eckhart, ebenda, S. 185, Zeile 4 ff.
3
Meister Eckhart, ebenda, S. 133, Zeile 33 ff.