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leiblichen und umweltlichen Vorbedingungen für sein Geistesleben
gebunden sei, soweit sie als schlechthin gegeben und daher als Bin-
dungen, Unfreiheiten zu betrachten seien.
Besteht eine Freiheit innerhalb des leiblichen Lebens? Diese Frage
haben wir dahin beantwortet, daß mindestens eine sozusagen ne-
gative Freiheit, jedenfalls keine ursächlich-mechanische Abhängig-
keit bestehe. Wir haben sie ferner in bezug auf die Rasse dahin be-
antwortet, daß diese zwar dem Einzelnen jeweils vorgegeben, aber
die Möglichkeit einer geistig bedingten, schrittweisen Umarbeitung
nicht völlig ausgeschlossen sei. — Bei nun einmal gegebenen rassi-
schen Vorbedingungen ist der Rahmen des leiblichen Lebens zwar
gegeben, aber auch hier entsteht die Frage, ob innerhalb dieses Rah-
mens Freiheit stattfinde. Daß der Mensch in gewissen Grenzfällen
diese Vorbedingungen beherrschen könne, beweisen die Möglich-
keiten äußerster freiwilliger Enthaltsamkeit, freiwilligen Hunger-
todes, freiwilligen Selbstmordes. Diese Möglichkeiten sind aller-
dings untrügliche Beweise dafür, daß auch auf leiblichem Gebiete
echte Freiheit nicht völlig fehle. Aber ihr praktischer Wert ist in-
sofern sehr eng begrenzt, als gerade eine Freiheitsbetätigung so
weitgehender Art fast auf die Vernichtung der leiblichen Vorbe-
dingungen des Lebens, somit auf die Vernichtung des leiblichen
Lebens überhaupt eingeschränkt ist. Freiwilliger Hungertod ist
nicht nur eine Freiheitstat des / Geistes, sondern zugleich die
Selbstvernichtung seiner irdischen Daseinsbedingungen. Ähnliches
gilt daher von der geistigen Einflußnahme auf Gemütsstimmungen
und Geisteszustände, sofern sie auf leibliche und umweltliche
Gründe zurückgehen. Kant hat in seiner von Hufeland herausge-
gebenen denkwürdigen kleinen Schrift „Von der Macht des Gemüts,
durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu
sein“ diese Möglichkeiten gezeigt und in seinem Leben selbst be-
wiesen, daß der Geist seinem Leibe gegenüber nicht gänzlich ohne
Waffen sei. Grundsätzlich steht es also nicht so, wie der Sensualismus
will, daß die höheren geistigen Vorgänge Ableitungen, Verfeinerun-
gen, „Sublimierungen“ leiblicher Verrichtungen und Notwendig-
keiten wären; aber es steht auch keineswegs so, daß der Geist je
leibfrei zu denken sei, daß er seinen Körper „selbst baue“. Er kann
nur (in beschränktem Maße) umbauen und sich über die Vor-
bedingungen teilweise erheben.