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Augustinus führt als das V e r n u n f t u n d W i l l e überhö-
hende Vermögen das G e d ä c h t n i s (memoria) ein, welches er
in enthusiastischer Weise feiert. Eine solche Lobpreisung könnte
unserer Zeit, die den Begriff des Gedächtnisses recht mechanisch
aufzufassen gewohnt ist, als ein Abgleiten ins Rationalistische er-
scheinen. Wie sehr wir mit einer derartigen Auffassung fehlgehen
würden, zeigt die Weiterführung dieser Lehre in der Scholastik und
insbesondere in der deutschen Mystik.
Meister Eckehart vertieft die Seelenlehre in einmaliger Weise,
indem er ihr den letzten metaphysischen Grund unterbreitet: D i e
S e e l e i s t d a s E b e n b i l d G o t t e s . In ihr wirken dieselben
Kräfte wie in ihm. Die Seelenlehre muß der Lehre von der Dreifal-
tigkeit, die Seelenkräfte müssen den göttlichen Personen entspre-
chen: dem Vater das „g e h ü g n i s s e“, dem Sohne das „ v e r -
s t e n t n i s s e“, dem Heiligen Geist der „w i 11 e“
1
.
„G e h ü g n i s s e“ wird übersetzt mit „Gedächtnis“, und Ecke-
hart fügt nicht nur den Augustinischen Terminus „memoria“ bei
2
,
sondern gebraucht auch das Wort „gedehtnüsse“
3
. Doch meint er
damit zweifellos viel Tieferes als der heutige Sprachgebrauch, wie
insbesondere aus dem Worte „gehügnisse“ zu erfahren ist. „hüge,
huge“ heißt: Sinn, Geist (und sogar: Freude). Man denke an Odins
Raben Hugin (der Gedanke), dem noch Munin (das Gedächtnis) zur
Seite war. Es ist die „enthaltende Kraft“
3
, das alle anderen Kräfte
Befassende. „Gehügnisse“ deutet wohl auf den Geistesgrund, der als
Ganzheit zugleich die „Aufbewahrungskraft“ der bereits „ausge-
gliederten Gedanken“ in sich trägt. Es ist ein Vermögen, das nur
dem Ganzen (als solchem, als dem seine Glieder Rückverbindenden)
eigen sein kann
4
. So konnte Augustinus sagen: „Das ist vielmehr
wunderbar, daß der Geist das Gedächtnis selbst ist“
5
.
Wie „gehügnisse“ mehr ist als „Gedächtnis“, so „ v e r s t e n t -
n i s s e “ mehr als „Verstand“. Eckehart versteht darunter, der da-
maligen Wortbedeutung gemäß
6
, etwa dasselbe wie Platon unter
1
Meister Eckhart, hrsg. v. Pfeiffer, Göttingen, Neudruck 1924, S. 383 ff.
2
Meister Eckhart, hrsg. v. Pfeiffer, S. 320.
3
Meister Eckhart, hrsg. v. Pfeiffer, S. 411.
4
Siehe oben S. 273 f.
5
Augustinus, Bekenntnisse, 10. Buch, 14. Kap.
6
Erst seit Kant bedeutet die Vernunft gegenüber dem Verstande das höhere
Vermögen.