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2. Die Kantische und die empiristische Einteilung
Mit Meister Eckehart hat die Lehre von der menschlichen Seele
ihren Höhepunkt erreicht. Sie ist mit jener der großen Meister des
Altertums eines Ursprunges, überhöht sie aber ins Übermenschliche.
Wie sehr auch die Geisteslehren des d e u t s c h e n I d e a l i s -
m u s , insbesondere die ihm zum Durchbruch verhelfende F i c h -
t e s , von demselben Grunderlebnis ausgehen und wieweit sie für
Spanns Pneumatologie sogar die Voraussetzung bilden, wurde von
Spann selbst sowie oben
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hervorgehoben. Hier bleibt uns nur
noch übrig darzulegen, daß K a n t und sogar der E m p i r i s -
m u s hinsichtlich der Einteilung der Seelenbereiche, wenn letzterer
auch sehr oberflächennahe zu Werke geht, der Lehre Spanns doch
nicht so sehr entgegengesetzt sind, wie dieser in seiner kämpferi-
schen Einstellung vor allem gegenüber dem Empirismus betont. Wir
würden der Ganzheitslehre gewiß nicht allen ihr gebührenden
Dienst erweisen, wenn wir in dieser Einstellung Spann kritiklos
und sklavisch folgten. Wir glauben im Gegenteil ihre allgemeine
Verbindlichkeit noch dadurch unterstreichen zu können, daß wir
aufzeigen, wie sie sogar der empiristischen Psychologie und hin-
sichtlich einer mit ihren ganzheitlichen Begriffsmitteln allein mög-
lichen Erklärung der „Gefühle“ auch dem aus dem Sprachgebrauch
abzuleitenden Empfinden des Volkes entgegenkommt.
Kant hatte die Einteilung der Seelenkräfte (diese seinen drei Kri-
tiken zuordnend) als E r k e n n t n i s , W i l l e u n d G e f ü h l in
der Philosophie heimisch gemacht. Dürfen wir nun in bewußter
Vereinfachung das Gefühl zunächst als das Gemüthafte nehmen und
das erkennende Denken ganz allgemein dem Geiste (Nus, Intellec-
tus) gleichsetzen, so können wir eine weitgehende Übereinstim-
mung mit den bisher besprochenen Lehren (von Platon bis Ecke-
hart) insofern feststellen, als jeweils zwei dieser Vermögen sich
grundsätzlich decken. Gegenüber der ganzheitlichen Pneumatologie
besteht eine Entsprechung der theoretischen Vernunft (Erkenntnis)
mit dem Gegenstandsbewußtsein, der Urteilskraft (Gefühl) mit dem
gestaltenden Bewußtsein, und der praktischen Vernunft (Wille) mit
dem „Wollen und Handeln“.
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Siehe oben S. 392 ff.