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t u n g e n b e i d e r V e r r ä u m l i c h u n g e i n g e s c h l a -

g e n w e r d e n . Das Anschießen an den Keim geht nämlich in

jenen Richtungen, welche die Ecken bilden werden, stürmischer

vorwärts; das Dazwischenliegende, Zurückbleibende bildet die

Flächen

1

.

Nur dadurch, daß bei der Kristallbildung bevorzugte Rich-

tungen eingeschlagen werden (die der gleichmäßig wirkenden

Schwerkraft widerstehen), ist Vielfalt der Gestalt möglich; nur da-

durch ist es auch möglich, daß jeder Kristall ein unwiederholbares

Individuum und jede Art der Kristalle von anderen verschieden

ist. Wären keine bevorzugten Richtungen, so gäbe es / nur die

reine, in sich gleichartige Kugel. Mit der Mannigfaltigkeit der

Kristalle, der Gestalten überhaupt, wäre es aus.

Es ist also unrichtig anzunehmen, daß die Urerscheinung der

Gestaltbildung die Kugel sei, es wäre denn, daß man sie in die

überirdische, göttliche Sphäre versetzte, wie Platon und Aristo-

teles. Die Natur kennt vielmehr die reine Kugelgestalt nicht,

sie ist ihr höchstens ein nie erreichter Grenzfall. Soferne es

Kugelkristalle (Sphärokristalle) gibt, sind auch bei ihnen „ra-

dial-faserige“ und „konzentrisch-schalige“ Gefüge festzustellen

2

,

daher stets Gefüge, reiche Gestaltungen. Die schlechthinige

Gleichmäßigkeit der reinen Kugel ist der Natur zu arm. Die

Natur ist auch nicht „sparsam“, sie ist zu reich, um haushalten

zu müssen! Das beweist auch die bildende Kunst, die ja wie jede

Kunst naturnahe ist. Es gibt keinen Kunststil, der die Kugel

zur Grundform hätte.

1

Deutlich stellt dies die Dichterin dar:

„Der Kristall spricht:

Heiliges Gleichgewicht herrscht mir im leuchtenden Innern.

Willst du’s empfinden? So blick mir auf die reine Gestalt!

Flächen, die sind unser Fleisch, die blühende, spiegelnde Fülle,

Doch in der Kanten Skelett ruht unsre eigenste Art.

Nach den Kanten hin streb ich und wachse hinein in die Ecken,

Aber in zauderndem Schritt rücken die Flächen mir vor.

Hier sind wahrlich die Letzten die Ersten, bei unserer Wuchsart,

Wo der gemächlichste Schritt breiteste Flächen erzeugt;

Hier sind die Ersten die Letzten, wenn, die am meisten vorausschoß,

Jene Fläche zuletzt winzig als Punkt sich verliert!”

(Erika Spann-Rheinsch: Das selige Buch, Augsburg 1925)

2

Vgl. Ernst Haeckel: Kristallseelen, Studien über das anorganische Leben,

Leipzig 1917, S. 17f.