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man denke an den Vorgang der „Entglasung“, bei dem die ver-
borgene kristallinische Struktur zum Vorschein kommt
1
. Vor
allem aber: was in den kleinen Verhältnissen des Versuchsrau-
mes isotrop und amorph erscheint, ist es in den großen Aus-
maßen der Natur dennoch nicht. In Seen und Meeren bilden sich
unglaublich scharf abgegrenzte Wasserkörper und Strömungen
(das weiß jeder Schwimmer), die doch nichts anderes als riesige
W a s s e r k r i s t a l l e sind. Sogar bei Gasen finden wir keine
vollständige Gleichförmigkeit, weder gestaltloses Zerfließen
noch bloße Kugelbildung, auch da finden wir vielmehr das
Streben zur Gestalt, wie schon die Kondensation, z. B. bei der
Wolkenbildung, erkennen läßt. Man muß nur auch da die großen
Ausmaße der Natur aufsuchen. Wir finden dann in den be-
kannten mehrfachen Schichtungen der Lufthülle der Erde und
ebenso in den „Luftkörpern“ mit ihren scharfen „Fronten“ Ge-
bilde, die in Wahrheit ebenfalls nichts anderes sind als riesige
L u f t k r i s t a l l e . Es fehlt also auch in diesen äußersten
Fällen nicht an Gestaltetheit in der Natur
2
.
Man darf sich das stoffliche Geschehen eben nicht nach dem
Bilde der kinetischen Gastheorie vorstellen, wonach die Be-
wegungen von Gasmolekülen auf freier Bahn gegeneinander
beliebig erfolgen und nur nach den „Regeln des Zufalls“ —
was schon eine Contradictio in adjecto ist — Zusammentreffen, /
woraus sich „statistische Wahrscheinlichkeiten“ ergeben sollen.
Selbst wenn solche verhältnismäßig freie Teilchenbewegungen
stattfänden, so vermöchten sie das nur im Rahmen einer Raum-
ordnung — also einer Gesamtgestaltung, die ihnen ihren Spiel-
raum anweist. Niemals sind aber schon gegebene Stoffteilchen
das Erste, niemals auch die Bewegungen dieser Stoffteilchen,
sondern V e r r ä u m l i c h u n g s t a t e n , i n n e r e T a t -
h a n d l u n g e n s i n d d a s U r s p r ü n g l i c h e d e r
N a t u r ! Wer das Wesen des Körpers nicht als Tat begreift, geht not-
1
„Die amorphen Körper gehen unter Wärmeentwicklung in die kristal-
lisierten über, da ein amorpher Körper ja eine unterkühlte Flüssigkeit ist”
(Aufsatz Thermochemie von Walther Adolf Roth im Handwörterbuch der Natur-
wissenschaften, Bd 9, Jena 1913, S. 1112).
2
Auf inneres Gefüge deuten endlich auch die Erscheinungen der sogenannten
Polymorphie, Polymerie und Isomerie, die bei festen Stoffen nicht nur, sondern
auch bei Flüssigkeiten und Gasen Vorkommen, hin.