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ist in Wahrheit Gestaltbildung vorhanden. Zunächst nimmt der
neue Stoff bekanntlich einen anderen Raum ein als die Sum-
me seiner Teile, es / hat also neue Raumbildung stattgefunden.
Ferner fehlt es, genau besehen, doch niemals an allem und jedem
inneren Gefüge. Die sogenannte „Isotropie“ der amorphen Stoffe
(wonach sie mechanisch, optisch und chemisch in allen Teilen
die gleichen Eigenschaften hätten) bedeutet nur, daß ihr Gefüge
mit den betreffenden Prüfungsmitteln (z. B. Spaltbarkeit, Licht-
durchlässigkeit) nicht erkennbar ist. A b s o l u t a m o r p h e
S t o f f e g i b t e s n i c h t . Weder das Feste noch das Flüssige,
noch das Kolloide, noch das Gasförmige kann ohne jede Gestalt
sein. Daß dem so sei, beweist zunächst der Umstand, daß es so-
wohl gelatinöse wie flüssige Kristalle gibt
1
. Manchmal zeigt sich
das erst in größeren Ausmaßen. Zum Beispiel ist eine W a s -
s e r w o g e zweifellos keine bloße Menge von Wasser, sondern
hat arteigene Form, nämlich kristallische! Gleichwie aber jeder
Kristall durch und durch kristallisch ist und im kleinsten Stück-
chen seine Gestalt wiederholt, so wiederholt auch jeder andere
Stoff, jede Flüssigkeit, jedes Gas, jedes Kolloid sein Feingefüge
in jedem kleinsten Teilchen.
Darum läßt sich die Behauptung wohl begründen: dasselbe,
was sich am Kristallischen zeigt, zeigt sich auch an der che-
mischen Bildung neuer Stoffe, sogar an sogenannten „amorphen“
Stoffen. (Feste Stoffe kommen übrigens, von bloßen Gemengen
abgesehen, nur anisotrop vor, das heißt, sie gehören zu den
kristallisierten Stoffen.)
Prüfen wir noch die sogenannte Isotropie näher, so bestätigt
sich, daß es in Wahrheit nirgends in der Natur an Gefüge, an
ausgezeichneten Richtungen des inneren Baues fehle. Denn was
sowohl chemisch homogen wie auch optisch isotrop erscheint
(so: Wasser, Alkohol oder von den festen Körpern Glas), / zeigt
in anderer Hinsicht dennoch wieder arteigenes Feingefüge, z.
B. teilt sich ein Tropfen wieder nur in Tropfen, überträgt also
die Gestalt auf die Teile, abgesehen davon, daß sich in größeren
Ausmaßen, wie erwähnt, die kristallartige Woge bildet. Oder
1
Vgl. z. B. über „gelatinöse Kollokristalle” Ernst Haeckel: Kristallseelen, S. 16f.,
über flüssige Kristalle ebenda und Otto Lehmann: Flüssige Kristalle, Leipzig
1904; ferner über “Sphärokristalle” (Kugelkristalle) Haeckel: Kristallseelen, S.
17f. und öfter.
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