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[201/202]

2. Die vielfachen Verrichtungen der Götter

(Vielfache Gliedhaftigkeit)

Wir deckten im Begriff des Stufenbaues einen jener Wesenszüge

auf, welche die Ordnung der Götterwelt erklären, stoßen aber da

gleichzeitig auf eine andere, so grundsätzliche wie auffällige Er-

scheinung: die Vielseitigkeit der einzelnen Götter, die große Zahl

ihrer Verrichtungen — ganz abgesehen von ihrer stufenbaulichen

Stellung. Zeus z. B., der „Vater der Götter und Menschen“, der

oberste Gott, hat bei Homer ebenso wie bei den Späteren noch viele

andere Verrichtungen als jene der Herrschaft.

Die Vielgestaltigkeit der Götter kommt überall vor und muß

grundsätzlich aus dem Wesen der Sache heraus erklärt werden. Sie

war schon immer wieder Gegenstand des Nachdenkens der / Re-

ligionshistoriker. Man half sich durch „Wanderung“, „Verschmel-

zung“, „Spaltung“, ferner durch „Entwicklung“ und endlich durch

die Mannigfaltigkeit jenes Naturgebietes, welches der betreffenden

Gottheit zugeordnet ist.

So z. B. sagt Friedrich Max Müller, man müsse jedem Gott „seinen viel wei-

teren Wirkungskreis“ zuweisen als „das kleine Gebiet..., von dem ein Gott,

wie sein Name zeigt, zuerst seinen Ausgang nahm. Der Gott des lichten Himmels

hat viele Seiten. Einige der Sagen, die von ihm erzählt werden, reflektieren viel-

leicht die aufgehende Sonne oder den Morgen, andere die Wolken, den Sturm,

den Regen, sogar den Donner und Blitz, andere den lieblichen Frühling oder

das Jahr, andere sogar den Untergang eines ruhmvollen Lebens mit der ersten

Andeutung eines zukünftigen Lebens“

1

.

Nun sind diese Überlegungen an sich nicht völlig unrichtig,

übersehen jedoch, daß es sich dabei nur um nachträgliche, kompli-

zierende, nicht um primäre Vorgänge handeln könne; das heißt,

daß die W u r z e l des Götterglaubens nicht vom Namen aus und

noch weniger durch Zuordnung zu einer Naturerscheinung zu ver-

stehen sei. Dem Namen geht Intuition und Gedanke voraus, oft

wird er nur eine äußere Seite verraten, wenn auch eine lehrreiche

— wie Zeus auf Himmel und Licht deutet, nach der bekannten

1

Friedrich Max Müller: Beiträge zu einer wissenschaftlichen Mythologie,

deutsch von Heinrich Lüders, Bd 1, Leipzig 1898, S. 47 f. — Ganz ähnlich, wenn

auch verwickelter, sieht diese Dinge z. B. Hermann Oldenberg: Die Religion des

Veda, 2. Aufl., Stuttgart 1917, S. 31 ff. und öfter; desgleichen Konrat Ziegler im

Artikel Zeus, in: Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie,

Bd 6, Leipzig 1924—27, S. 566 und viele andere.