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gelernt werden muß, daher im Anfange z. B. quellenkritische Son-
derarbeiten für den Geschichtswissenschaftler, statistische Studien
für den Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler,
eine sinnesphysiologische Studie für den Seelenwissenschaftler usw.
sehr nützlich sind, brauchen wir nicht weiter zu begründen. Nur
glaube man ja nicht, mit diesen Vorübungen den heiligen Boden der
theoretischen Wissenschaft selbst schon betreten zu haben.
Worauf man aber bei gründlichem Studium der Theorie der ein-
zelnen Geisteswissenschaften und ihrer Verfahrenfragen immer un-
abweislicher stoßen wird, ist die P h i l o s o p h i e . Die Alten be-
trieben die Gesellschaftslehre hauptsächlich in der Form der Sitten-
lehre [Ethik). Diese aber wurzelt grundsätzlich in der Philosophie.
Es ist daher ein geradezu barbarischer Zustand zu nennen, wenn un-
sere Geschichtswissenschaftler, Archäologen, Philologen, Völker-
kundler, ebenso wie unsere Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und
Volkswirtschaftswissenschaftler und sogar die Seelenwissenschaftler
keine gründlichen philosophischen Studien betreiben! Hier verfolge
der Jünger das Ziel, neben / einer sorgfältigen Durcharbeitung eini-
ger Geschichtswerke der Philosophie (ich darf hierfür als Mindest-
maß die kleine Geschichte der Philosophie von Schwegler und mei-
nen „Philosophenspiegel“ empfehlen) die allergrößten Meister der
Philosophie, die ihre Zeit bestimmten — Platon, Aristoteles, Leib-
niz, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Meister Eckehart, die altindischen
Upanischaden — in einigen ihrer Hauptwerke zu studieren. Diese
Philosophen sollen den jünger, welcher Wissenschaft er sich auch
widme, durch sein Leben begleiten. Dazu reicht ein ganzes Leben
gerade aus — „das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“! Ein Volk,
dessen Gebildete nicht ihr ganzes Leben hindurch neben ihren Fä-
chern und Berufen mit der hohen Philosophie in Fühlung bleiben,
geht unvermeidlich einer V e r f l a c h u n g s e i n e r K u l t u r
entgegen! Das gilt namentlich für das deutsche Volk! Wir haben
Zeugnisse, wonach um die Wende zum 19. Jahrhundert die Werke
Kants, Fichtes, Schellings, Hegels in den Buchläden mehr verlangt
wurden, als selbst die Goethes und Schillers. Wo ist jene paradie-
sische Höhe, die damals erreicht wurde? Heute kennt man jene
Großen vielfach nur noch dem Namen nach und versinkt immer
mehr in flache Empirie.