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Es ist lehrreich, wie Eckehart die mittelhafte Stellung des Her-
zens hervorhebt, die leibliche Gestalt dadurch als sinnvolle auffaßt
und das auch mit dem Vorrange des Herzens, denn diesem liegt
das „erste Werk“ ob, in Einklang findet.
Hier tritt das grundsätzliche Kennzeichen des ganzen Naturbildes
besonders hervor: das A n s c h a u l i c h e ! Sonne und Sterne dre-
hen sich für die Anschauung um die Erde, nicht umgekehrt. Ferner
wird die gesamte Natur durchseelt und l e b e n d i g oder wenig-
stens nach Art von Seele und Leben gesehen.
II. Der Zug der Natur zu Gott.
Das Verhältnis des Menschen zur Natur
Die soeben dargelegte Naturanschauung Eckeharts wird, wie nun
zu zeigen ist, weiterhin durch folgende Gedanken grundsätzlich be-
stimmt:
(1)
die Naturdinge sind, an sich genommen, nichtig, besonders
im Vergleiche zur Seele;
(2)
Gott ist am Grunde aller Kreaturen, nicht nur der Seele;
(3)
sie streben alle zu Gott zurück, und aus diesem Zuge zu Gott
entwickeln sich erst alle Natureigenschaften;
(4)
ausschließlich in diesem ihrem Gottesstreben und ihrer Gott-
durchdrungenheit ist das Verhältnis des Menschen zu ihnen be-
gründet.
A. Die N i c h t i g k e i t d e r N a t u r d i n g e
1. Ontologisch
Sie haben nur Sein, sofern sie ein Verhältnis zu Gott haben; an
sich sind sie nichts.
„Alle crêatûre in dem si sint, sô sint si alse ein niht; swenne si überschinen
werdent mit dem liehte, in dem si ir wesen nement, da sint si iht.“
1
„An allem Geschaffenen spürt man den Schatten des Nichts.“
2
1
Pf. 107, 38: Alle Kreaturen, wie sie (an sich, selbst) sind, sind wie ein
Nichts; werden sie jedoch überschienen von dem Lichte, von dem sie ihr Sein
nehmen, da sind sie etwas.
2
Meister Eckhart: Die Lateinischen Werke, Dritter Band, Expositio sancti
Evangelii secundum Johannem, herausgegeben von Josef Koch, Stuttgart 1937,
S. 17.