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Dagegen:
„Ehe alle Kreaturen geschaffen wurden, waren sie in Gotte Gott.“
1
. . weil alles in Gott Gott selbst ist“
2
.
„ . . . das Sein selbst, Gott, kehrt sich seinerseits nicht von jemandem ab noch
stößt er ihn von sich, sondern jeder wird selbst verstoßen, jeder stößt selbst das
[göttliche] Sein von sich, der von irgend einem Sein abfällt auf irgendeine Weise.“
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Das kann nichts anderes heißen als: das Böse verliert an Sein,
schrumpft an Sein zusammen. Wie wohl überhaupt eine Begrün-
dung des Lehrbegriffes des Abfalls nur in der Lehre Eckeharts vom
Bösen zu suchen sein dürfte. Ganz allgemein aber gilt:
„Alles was Gott nicht ist, hat in ihm selber natürliche Bitterkeit.. ,“
4
—
ein Wort, das wieder im mystischen Erlebnisse des vollkommenen
Seins, verglichen mit dem des Unvollkommenen der äußeren Er-
fahrung, wurzelt.
Allgemein weist die Lehre vom Abfalle auf den Lehrbegriff des
B ö s e n hin. Wir werden ihm in der Sittenlehre begegnen. Hier
nur noch so viel, daß Eckehart auch den G e g e n b e g r i f f d e s
A b f a l l s , die Erneuerung und Verjüngung in Gott, kennt:
„Alles wird neu, gut, rein, lauter und heilig, indem es sich Gott zukehrt, sich
ihm nähert, zu ihm zurückeilt und zurückkehrt und ihm sich zuwendet.“
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Hiermit sind wir bei dem wichtigsten Teile der Naturphiloso-
phie Eckeharts angelangt, bei dem Zuge der Wesen zu Gott.
B. Der Zug der N a t u r z u G o t t . A u s i h m e n t f a l t e n
s i c h e r s t d i e E i g e n s c h a f t e n d e r D i n g e
Meister Eckehart lehrt wie einerseits den Mangel und die Un-
vollkommenheit der Natur, so andererseits ihr Streben zu Gott.
Dies letztere ist neuplatonisch. Eckehart geht aber noch einen Schritt
weiter: er leitet daraus das gesamte Naturleben ab. (Auch hier wie-
der der grundsätzliche Unterschied zur neuzeitlichen Naturwissen-
schaft. Nach dieser hat alles Geschehen — denn „Leben" kann man
nicht sagen — in einem „Energiegefälle“ seinen Grund: das Warme
1
Philipp Strauch: Paradisus anime intelligentis, in: Deutsche Texte des Mittel-
alters, Bd XXX, Berlin 1919, Predigt 7, S. 384, 20.
2
B 72.
3
B 149.
4
Zitiert nach B 153.
5
B 149.