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„Alle crêatûre sint ein luter niht. Ich spriche niht, daz si kleine sîn oder iht
sin: sie sint ein luter niht. Swaz niht wesens enhât, daz ist niht. Alle crêatûre
hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwertikeit gotes. Kêrte sich
got abe einen ougenblik, sô würden sie ze nihte.“
1
„.. . alle crêatûre tragent inne bitterkeit.“
2
Dies stimmt mit dem Gedanken der Schöpfungslehre überein, daß
Gott die Kreatur immer tragen, durchdringen muß, um sie am
Sein zu erhalten. Kehrte sich Gott einen Augenblick ab, Himmel
und Erde müßte vergehen. Daher ist Gott das Sein.
Auf die mystische Quelle dieser Erkenntnis — die übrigens auch
rational einfach begründbar ist — weist Eckehart selbst in folgen-
dem Satze hin:
„Der got slht, der erkennet, daz alle crêatûre niht sint. Alse man eine crêa-
tûre setzet gegen die andern, so scînet si schone unt ist etwaz: aber als man sî setzet gegen got,
so ist si niht.“
3
Eine weitere Begründung öfters, z. B.:
„Da got die crêatûre ane sihet, dâ gît er ir ir wesen; da diu crêatûre got
ane sihet, dâ nimet si ir wesen.“
4
Die ontologische Begründung dieser Lehre, die man übrigens auch
thomistisch nennen kann
5
, ist klar, sobald man nur den Schöp-
fungsbegriff dabei anerkennt: Das Sein der Kreaturen ist nicht in
sich selbst begründet, sondern wird verliehen, wird durch eine un-
unterbrochene Schöpfungstat von Gott hervorgebracht. „Kehrte
sich Gott nur einen Augenblick ab, die Kreaturen würden zunichte."
Ontologisch faßt dies Eckehart in den Satz zusammen:
„ G o t t i s t d a s S e i n . Deus est esse.“
6
1
Pf. 136, 23: Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, daß sie
geringwertig oder überhaupt etwas seien: sie sind ein reines Nichts. Was kein
Sein hat, das ist nichts. Alle Kreaturen (nun) haben kein Sein, denn ihr Sein
hängt an der Gegenwart Gottes. Kehrte sich Gott nur einen Augenblick von
allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte.
Ähnlich auch: Pf. 298, 4.
2
Pf. 300, 20: Alle Kreaturen tragen Bitterkeit in sich.
3
Pf. 222, 33: Wer Gott erblickt, der erkennt, daß alle Kreaturen nicht sind.
Wenn man eine Kreatur gegen die andere hält, so scheint sie schön und ist et-
was; stellt man sie aber Gott gegenüber, so ist sie nichts.
4
Wenn Gott die Kreatur ansieht, gibt er ihr Sein (das ist: Seele); wenn die
Kreatur Gott ansieht, da nimmt sie ihr Sein.
5
Vgl. Otto Karrer und Herma Piesch: Meister Eckeharts Rechtfertigungs-
schrift vom Jahre 1326, Einleitungen, Übersetzung und Anmerkungen, Erfurt
1927, Anmerkungen S. 155 und S. 76, No. 15.
8
B 108.