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Hier aber finden wir ausnahmslos eine Grundtatsache, welche
vernehmlich für Meister Eckehart spricht: Der hohen Kunst leuchtet
in der Natur überall das Übersinnliche auf!
Sei es die Naturdichtung Goethes und der Romantik, sei es die
Musik, die Malerei, die bildende Kunst, überall, wo sie die Natur
darstellt, läßt sie ihren übersinnlichen Grund hervortreten. Das
göttliche Leben der Seele und der göttliche Grund der Natur muß
sich in der echten Kunst berühren.
Die Gottesgegenwart in der Natur spricht Goethe in den „Gren-
zen der Menschheit“ erhaben aus:
Wenn der uralte,
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Uber die Erde sät,
Küss’ ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust«
Und dasselbe verkündet Goethe als Lehre:
Was kann dem Menschen Höh’res widerfahren,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare .. .
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?
In berühmten Worten lehrt er wie Eckehart, ohne Eckehart zu
kennen, daß Gott auf dem Grunde der Natur wirke, innerlich,
nicht äußerlich:
Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen
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Schon in frühester Jugend empfand er so, wie er uns selbst er-
zählt — aus Anschauung und unmittelbarer Verbundenheit:
„Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein
Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm (dem Knaben) der eigentliche Gott."
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Eben diese Naturauffassung und keine andere ist es, welche der
Lehre Eckeharts, die Gemeinschaft des Menschen mit der Natur be-
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Vor Schillers Schädel.
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Gott, Gemüt und Welt.
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Dichtung und Wahrheit I.