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M o o r , sogar G o e t h e s M e p h i s t o bieten deutliche Bei-
spiele.
Eckehart trägt hier nicht abgezogene Gedanken vor, was er sagt,
stammt aus einem wahren, tiefen Mitfühlen mit dem gebrechlichen
Menschen.
„Sit des gewis bi der ewigen wârheit, ... er [Gott] enmöhte dem sünder niht
wirs getuon weder mit helle noch iender mite denne er dâ mite tuot, . . . daz
er niht über in verhancte sô grôzen jâmer, daz er niht sünden möhte. Unde
gebe im got wê aller der weite, dannoch möhte in got niht mê slahen dan er
da mite geslagen ist, daz er sündet.“
1
Gott straft nicht, aber menschliche Strafe erscheint dem Meister
wohl unvermeidlich.
„.. . : ein senfter gotlîcher ernst sol liuhten ûz frumen liuten mit strâfenne.“
2
Aber wer „umbe gerehtikeit“
3
eine Strafe auf sich nimmt, würde
„âne mitel sêlic“
4
.
Wie Gott lieber Großes gibt als Kleines, so v e r g i b t G o t t
a u c h l i e b e r G r o ß e s a l s K l e i n e s
5
. Das erscheint über-
kühn, und doch schöpft Eckehart die Berechtigung dazu wieder aus
seiner Lebens- und Menschenkenntnis. Er sagt:
„.. . und ouch noch erfrâget man selten, daz diu liute koment zuo grôzen
dingen, sie sîen ze dem ersten etwaz vertreten.“
6
Eckehart denkt hier vor allem an die Bekehrungsgeschichten von
Heiligen und an die Apostel, besonders wohl an die geschichtliche
Gestalt des Apostels Paulus. Damals bot Wolfram von Eschenbachs
Parzifal ein Beispiel aus der Dichtkunst, heute böte es Goethes
1
Pf. 277, 14: Bei der ewigen Wahrheit, seid dessen gewiß: . . . E r (Gott)
kann dem Sünder nicht mehr weh tun, weder mit der Hölle noch mit sonst
irgend einer Strafe, als damit, daß er über den Sünder nicht mehr so großen
Jammer verhänge, damit dieser nicht mehr sündigen könne (denn das Leiden
würde ihn läutern, das Sündigen den Boden der Reue bereiten). Und doch: Gäbe
ihm (dem Sünder) Gott alles Weh der Welt, Gott könnte ihn dennoch nicht mehr
schlagen, als er dadurch geschlagen ist, daß er sündigt.
2
Pf. 667, 3 (Spruch 114; allerdings nicht sicher, ob echt): Ein sanfter gött-
licher Ernst soll aus rechtschaffenen Leuten strahlen, die zu bestrafen haben.
3
Pf. 577, 17: um der Gerechtigkeit willen.
4
Pf. 577, 21: ohne Mittel (oder ohne Mittler oder Mittlung) selig.
Ähnlich Pf. 427, 39.
5
Pf. 135, 20.
6
Pf. 557, 35: Und immer noch hört man selten, daß Menschen zu großen
Dingen gelangen, die nicht vorher etwas begangen hätten (die Sünde gekostet
hätten).