238
hindurch zu Gott. Schon in der Sittenlehre zeigte sich die Folge
dieses Satzes. Nicht Weltflucht, nicht Quietismus ist der Leit-
gedanke der Lebenslehre Meister Eckeharts, vielmehr: durch Werk
und Zeit über Werk und Zeit hinaus zu Gott.
Diesen Gang durch „Werk und Schaffen“ kennzeichnet Eckehart
zugleich als Sinn des Lebens in folgenden bedeutsamen Worten:
: diu sêle ist dar umbe dem lîbe gegeben, daz si geliutert werde. Diu
sêle, als si von dem lîbe ist gescheiden, so enhât si weder Vernunft noch willen:
sie ist ein... diu s ê l e w i r t g e l i u t e r t i n d e m l î c h a m e n d a r
u m b e , d a z s i s a m e n e d a z z e r s p r e i t e t i s t und ûz getragen.. ..
Daz ander, daz si geliutert wirt in üebunge der tugende, daz ist, swenne diu
sêle ûf klimmet in ein leben, daz vereinet ist. Dar an lît der sêle lûterkeit, daz
si geliutert ist von eime leben, daz geteilt ist, unde tritet in ein leben, daz ver-
einet ist.“
1
Kurz kennzeichnet Eckehart diesen Gang und dieses Ziel auch
durch das Wort:
„Alle crêatûren verzîhent sich irs lebens ûf ir wesen.“
2
Dies dürfen wir auch verneinend ausdrücken:
Vernichtung des Nichts ist die Bestimmung des Menschen. Dieser
dem Menschen gestellten Aufgabe der Vervollkommnung entspricht
nun seine unendliche V e r v o l l k o m m n u n g s f ä h i g k e i t .
„.. . waz des nihtes ist in dem menschen, daz muoz getiliget werden;.. ,“
3
.
Vervollkommnung liegt aber zuletzt an der Erkenntnis Gottes,
allerdings nicht an der begrifflichen, verständigen, vielmehr an der
inneren, aufnehmenden. In einer lateinischen Predigt heißt es:
„Der Geist vermag immer mehr aufzunehmen, ja, je größer der Gegenstand,
umso leichter. D e s h a l b i s t e r a u c h f ä h i g , d a s U n e n d l i c h e a u f -
z u n e h m e n.“
4
1
Pf. 264, 14: . . . D i e Seele ist darum dem Leibe gegeben worden, daß sie
geläutert werde. Die Seele, da sie von dem Leibe geschieden ist, hat weder Ver-
nunft noch Willen: sie ist eins (mit ihm; — die Seele ist nur die Wurzel der
Seelenkräfte, gliedert diese aber ohne den Leib nicht aus) ... Die S e e l e
w i r d d a r u m i n d e m L e i b e g e l ä u t e r t , d a ß s i e s a m m l e , w a s
v e r s t r e u t und vertragen i s t . . . . zum andern, daß sie in der Übung der
Tugend geläutert werde, das heißt, immer wenn die Seele in ein Leben der
Vereinigung (mit Gott) aufklimmt.
Daran liegt der Seele Lauterkeit, daß sie geläutert wird von einem Leben
des Geteiltseins und eintritt in ein Leben der Vereinigung.
2
Pf. 180, 22: Alle Kreaturen entäußern sich ihres Lebens um ihres Seins
willen.
3
Pf. 41, 6: Was des ,Nichtes‘ Anteil im Menschen ist, das muß getilgt werden.
4
B 105.