N e u n t e r A b s c h n i t t
Vom Sinne des Lebens
I. Grundsätzliches
Der Frage nach dem Sinne des Lebens scheint Eckehart mit eini-
ger Scheu gegenüberzustehen. Sucht man aber getreulich nach, so
finden sich doch Hinweise, die uns seine Lehre erkennen lassen.
Und diese Lehre ist wieder meisterlich über meisterlich, jedoch wie
er selbst öfters sagt, „heimlich“ (schwer begreiflich).
Mich dünkt, Meister Eckehart ging zuerst von der Zergliederung
des Ganges des wirklichen Lebens des Menschen aus. Und da fand
er, daß der Mensch gleich bei der Geburt beginne, seinen Geist aus
der sinnlichen Befangenheit und Zerstreuung zu sammeln, um zu
sich selbst zu kommen. Je mehr der Geist aber zu sich selbst kommt,
so dürfen wir Eckeharts Lehre erläutern, um so mehr kommt er
auch zu Gott — und damit erst erfüllt er den Sinn des Lebens.
Eckehart lehrt demnach: Im W e s e n d e s G e i s t e s liegt es,
zu seiner Vollkommenheit zu kommen. Diese besteht darin, wie
die Sittenlehre schon zeigte, immer mehr Ähnlichkeit mit Gott, die
Vergottung, zu erlangen. Darum bedarf es hier nur nochmals der
Rückerinnerung an den folgenden Hauptsatz der Sittenlehre:
„Einez ist, âne daz ich in got niht komen mac, daz ist werc und gewerbe in
der z î t . . . Wan dar umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlîchem
vernünftigem gewerbe gote nêher unde gelîcher werden.“
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Will man Meister Eckeharts Lebensauffassung verstehen, dann
kann man diesen Satz nicht genug beachten. Er gibt nicht nur seiner
Sittenlehre ihr Gepräge, er weist uns auch auf seine Lehre vom
Sinne des Lebens hin. Der Weg des Lebens ist: durch die Welt
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Pf. 49, 26: Da ist eines, ohne das ich nicht zu Gott gelangen kann: Es ist
Werk und Wirken in der Zeitlichkeit.
. . . Denn darum sind wir in die Zeit gesetzt, daß wir durch zeitliches, ver-
nünftiges Wirken Gott näher kommen und ihm ähnlicher werden.