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Da dies wesentlich von der mystischen Erkenntnis gesagt ist, ist
es auch mit der Abgeschiedenheitslehre unmittelbar verbunden:
.. je entblößter [im Sinne des Leerseins der Abgeschiedenheit] desto emp-
fänglicher."
1
Wie uns bekannt, fehlt es auch nicht an ausdrücklichen Erklä-
rungen, daß die Vollkommenheit des Menschen, gleichwie bei
Platon
2
, in der Verähnlichung mit Gott bestehe. Darum ist jede
Tugend ein „Schmuck der Gottförmigkeit des Menschen“
3
.
IL Die Wiederkehr in Gott
Die Verähnlichung mit Gott führt noch zu einem anderen my-
stischen Gedanken. In ihr ruht wohl der Sinn des Lebens, aber sie
wird erläutert und erweitert durch den Gedanken der Wiederkehr
der Seele in Gott. Gegen das Ende der 56. Predigt sagt Eckehart:
„Swenne ich kume wider in got, bilde ich da niht, sô ist min d u r c h -
b r e c h e n vil edeler danne mîn ûzfluz.“
4
Der Sinn des Lebens ist, daß sich der Mensch im Leben zu einem
höheren Wesen bilde, dadurch wird sein E i n g a n g i n G o t t
h e r r l i c h e r a l s s e i n A u s g a n g i n d i e W e l t w a r !
Um diese Gedanken Eckeharts vollständig zu würdigen, scheint
es mir, daß wir uns über zwei Fragen vorher klar sein müssen:
(1)
Welche Vorstellung hatte Eckehart von dem Zustande der Seele,
bevor sie „ausfloß“, das heißt in die Welt eintrat?
(2)
Wieweit gehört dazu, daß das „Durchbrechen“ edler sei als das
Ausfließen, ein vollkommenes Leben? Und in besonderem: wie-
weit gehört dazu die „ W i e d e r b r i n g u n g a l l e r
D i n g e “ (von der wir unten sogleich sprechen werden)?
Was die erste Frage betrifft, so gehört Eckehart zweifellos unter
die sogenannten Kreatianer, welche nämlich annehmen, daß nur der
Leib von den Eltern geschaffen (gezeugt) werde, die Seele aber von
Gott
5
. Wie auch Aristoteles lehrte, komme sie „von außen“ in den
1
B 105.
2
Theaitetos 176 b f.; Staat 613 b; Gesetze 716 d.
3
B 122.
4
Pf. 181, 13: Wenn ich wieder eingehe zu Gott und gehe ich den Bildern
der Welt nicht (mehr) nach, so ist mein D u r c h b r e c h e n zu Gott viel
edler als mein Ausfluß (mein Eintritt in die Welt).
5
Vgl. Pf. 205, 13.