10
Erkenntnis veranschaulichen, daß es in der Geistesgeschichte nicht
allein auf die Findung der Wahrheit ankomme! Es muß a u c h
M e n s c h e n g e b e n , w e l c h e s i e n a c h z u d e n k e n u n d
i n s i c h z u e r z e u g e n f ä h i g s i n d !
Von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an ging diese Fähig-
keit zurück. Die neuen Geschlechter wurden von den Aufgaben
der neu heraufgekommenen materialistisch-technischen Kultur ver-
schlungen, der äußere, nämlich physikalisch-chemische und mengen-
haft-mathematische Anblick der Dinge nahm sie gefangen, die
gesamte geistige Kultur ging zurück.
Heute muß Prometheus das himmlische Feuer aufs neue den
Göttern rauben! Denn die hohe philosophische Bildung des deut-
schen Volkes, die Voraussetzung jedes hohen Aufschwunges, ging
verloren. Nichts aber sank so tief wie die künstlerische Kultur! Von
einem wahllosen geschichtlichen Sammelsurium der Kunststile zu
Beginn dieser Entwicklung ging es immer tiefer und tiefer hin-
unter durch fleißigen Naturalismus hindurch bis zum Gipfel des
Primitivismus, zur Kunst der Geisteskranken!
K r a n k h a f t i g k e i t ist das eigentliche Merkzeichen der
Kunst der letzten fünfzig Jahre!
Aber wie könnte sich das jemals ändern? Man wird geltend ma-
chen, daß die technische Entwicklung fortdauert, die anorganischen
Naturwissenschaften weiter fortschreiten, daher die Einstellung der
Menschen dieselbe technisch-materialistisch-mathematische bleiben
werde.
Glücklicherweise darf man die Lage der Dinge rosiger sehen!
Praktische Aufgaben hatte der Mensch immer zu lösen. Der
Bauer mußte seinen Acker, der Handwerker seine Werkstätte, der
Fabriks- und Handelsherr seine Angelegenheiten immer besorgen!
Aber der G e i s t , i n w e l c h e m s i e a n i h r e A u f g a -
b e n h e r a n g i n g e n , war verschieden!
Nichts hindert, daß dieser Geist wieder den hohen Idealen zuge-
wendet, die alten Wahrheiten ergriffen, die alte Schönheit ins
Herz geschlossen werden!
Möge der Genius der Geschichte uns günstig sein, auf dessen
Geheimnisse schon Goethe deutete, als er sagte:
„Gar vieles kann lange erfunden, entdeckt sein, und es wirkt