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Das Ich oder Subjekt wird in dieser Kunst keineswegs verküm-
mert (wie fälschlich behauptet wird). Wer sollte z. B. bei Homer
in seiner Individualität verkürzt werden? Im Gegenteile! Der fast
wie selbstverständliche Verkehr mit den Göttern hebt jedes Indi-
viduum; wie er es andererseits allerdings in die großen Zusam-
menhänge der göttlichen Weltordnung einreiht und auf seinen Platz
stellt. Der subjektivistisch übertriebene Kultus des Individuums, das
sich gewissermaßen allein auf der Welt wähnt, findet demnach in
der Klassik keine Rechtfertigung.
Das Ich seinerseits tritt aus eben diesen Gründen nicht — wie
zum Teil in der Romantik — mit Ansprüchen hervor, die sich aus
seinem Hader mit dem Schicksale, der Welt und Gott selbst ergeben!
Denn das Ich ist ja, wie oben schon betont, mit der Welt und Gott
ausgeglichen, ausgesöhnt; wodurch sich auch von dieser Seite her
wieder die aus der Eingliederung in das metaphysisch gesicherte
Gesamtganze verbürgte Gegenständlichkeit ergibt.
Anders ausgedrückt heißt das: Ich und Gegenstand sind in der
Klassik von Anbeginn in einer Synthese verbunden.
Das grundsätzliche Verhältnis von Gegenstand und Ich kann man vom Stand-
punkte der Eingebung auch mit Hegels berühmten Worten kennzeichnen: „Wer
die Welt vernünftig ansieht, den sieht auch sie vernünftig an“; wobei mitklingt,
daß „vernünftig“ hier nicht nur das richtige Denken des Menschen, sondern auch
zugleich die Weltvernunft, die göttliche Logik, den Logos, bedeutet.
Bleibt noch die Frage, welches nun das V e r h ä l t n i s d e r
K l a s s i k z u m R e a l i s m u s sei. Auch dieser rühmt sich ja
der Gegenständlichkeit, Objektivität, Sachtreue. Die Antwort kann
nur lauten: Alle echte Kunst sieht den Dingen ins Herz und nicht
auf die Haut!
Das Ins-Herz-Sehen geschieht durch Eingebung, das Auf-die-
Haut-Sehen durch die Sinnesorgane (und ergänzend noch durch das
Denken).
Jene Kunst, welche nur auf die Haut sieht, ist der Realismus oder
Naturalismus. Wenn auch er sich der „Gegenständlichkeit“ rühmt,
so fehlt dabei doch: erstens der tiefere Blick in das Wesen der Dinge,
in ihre Seele; diesen kann nur die Eingebung vermitteln, die bloße
Äußerlichkeit zu sehen, kann nicht genügen; zweitens fehlt der
größere, der metaphysische Zusammenhang, in welchem die Einge-