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Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick’ in die Ferne,
Ich seh’ in der Näh’
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh’ ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mirs gefallen,
Gefall’ ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!
In den letzten zwei Strophen spricht sich auch jene metaphysische
Sicherheit der Klassiker aus, ohne welche, wie früher nachgewiesen,
klassische Dichtung nicht möglich wäre.
Goethes „Faust“, mag man ihn in den ersten Monologen roman-
tisch nennen, ist aber sonst, namentlich im zweiten Teile, trotz
stärkster innerer Bewegung gegenständlich, klassisch; denn die inne-
ren Aufgaben Faustens werden durchaus zugleich als allgemein gül-
tige, rein menschliche, also überichhaft, behandelt. (Wie sehr das
auch für die größten Strecken des ersten Teiles gilt, davon später.)
Das ist es ja, worauf es der höchsten Kunst ankommt: die indivi-
duelle Eingebung ins Uberindividuelle zu erheben. Dadurch wird
die Synthese, der Einklang des lchhaften und Gegenständlichen er-
reicht. Klar kommt das auch in der „Iphigenie“ Goethes zur Er-
scheinung. Schon der erste Anfang, welcher tiefe innere Bewegung
enthält, verharrt dennoch auf allgemein-menschlicher, damit über-
individueller und gegenständlicher Ebene. Iphigenie sagt dort:
Heraus in eure Schatten, kühle Wipfel
Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum,
Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich es zum erstenmal beträte ...
Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.