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Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais -
Aber was sah er? Er sah - Wunder des Wunders - sich selbst.
Hier sehen wir die Begründung der Ichhaftigkeit der künstleri-
schen Eingebung auf die umfassendste Weise versucht: Die Gegen-
ständlichkeit der Natur ist zuletzt im Ich selber begründet (oder
wenigstens mitbegründet); im Ich selber sind die schöpferischen
Kräfte der unaussprechlichen Natur und der geheimnisvollen Über-
natur; dazu das Suchen und Sehen, Zweifeln und Finden des Ich.
Dieser Zwiespalt und Triumph zugleich bestimmt die Gliedhaftig-
keit der Eingebung des romantischen Dichters.
Die romantische Kunst, so versteht man jetzt, ist ichhaft auf
gegenständlichem Grunde. Sie erfaßt die Dinge gleich der klassi-
schen in ihrem inneren Wesen, von ihrer Innerlichkeit, ihrer Seele
aus; aber sie vermag es nicht, ohne einen ichhaften Einschlag! Sehn-
sucht, Vorstoß ins Unbekannte und Unbestimmte treibt sie zum
Schwankenden, Ichhaften. Die Ungewißheit den Rätseln des Daseins
gegenüber erzeugt eine gewisse Zwiespältigkeit: das ist der ichhafte
Bestandteil der romantischen Kunst; echte, metaphysisch unterbaute
Eingebung vom Wesen der Dinge und Menschen: das ist ihre Gegen-
ständlichkeit.
γ.
Übergänge
Da alle diese inneren Zustände und Geisteshaltungen wechseln
und ineinander übergehen können, so versteht man — und das
dünkt uns von besonderer Wichtigkeit —, wieso überall unmerk-
liche Übergänge klassischer und romantischer Kunst bestehen kön-
nen. Daher konnte Goethe in den ersten Faustmonologen, im
„Götz“, in den ersten Teilen „Wilhelm Meisters“ und anderen Ju-
gendwerken von den Romantikern mit Recht als ihr Vorbild ange-
sehen und hoch verehrt werden. Er war wirklich der Mitbegründer
und jedenfalls der Abgott der frühen Romantiker; während sich
später, als Goethe der abgeklärten Klassik zustrebte, bekanntlich
Gegensätze entwickelten.
Weil solche Änderungen innerer Zustände nur natürlich sind,
kann auch dieses oder jenes Werk eines Künstlers mehr romantisch,
das andere mehr klassisch erscheinen. Das zeigt sich z. B. an G r i l l -
p a r z e r , welcher später als Gegner der Romantik auftrat, ihr aber
nicht nur in der „Ahnfrau“, auch im „Traum ein Leben“ und ande-
ren reifen Werken seinen Tribut zollte.