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und der Gottdurchdrungenheit auf die Stirne gedrückt ist und ein
überirdischer Glanz von ihnen ausgeht.
Sobald diese Bestrebungen eine gewisse m y s t i s c h e S t u f e
erreichen, überhöhen sie beide, die klassische und die romantische
Kunst, und führen den menschlichen Geist näher zum Ziele, als jede
andere Kunst- und Stilrichtung es vermöchte!
Zeugnis dessen ist ja gerade die Gotik, die durch keinen Stil in
der gesamten Kunstgeschichte der Welt übertroffen wird.
Eigene B e i s p i e l e für die Rückverbundenheit klassischer
wie romantischer Dichtung neben den früher gegebenen noch an-
zuführen ist nicht nötig.
Die Klassik ist vollkommener, die Romantik urtümlich-mensch-
licher.
Darum laßt uns die Romantiker feiern als jene Menschen, welche
alle Zeit dem Vogel P h ö n i x zu vergleichen sind, der, s c h o n
i n S t a u b g e s u n k e n , zu neuem Leben, n e u e m Licht sich
erhebt.
Durch E n t f a c h u n g i n n e r e n F e u e r s , durch innere
E r w e c k u n g allein ist dieses Ziel erreichbar; — ein Ziel, das
das U n e n d l i c h e selbst ist!
Hier treffen R o m a n t i k u n d h o h e M y s t i k zusammen.
In unvergleichlicher Genialität schildert diesen Weg ins Unend-
liche G o e t h e in seinem „West-östlichen Diwan“
1
.
Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Mitte immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt, ist offenbar
Das, was zu Ende und anfangs war.
1
Goethe verteidigt hier Hafis und sich selbst gegen den Vorwurd des Orien-
talisten van Hammer, daß es dem Dichter an künstlerischer Einheit fehle: „Anfang
und Ende ist immer dasselbe.“ Goethe sieht darin im Gegensatz zu Hammer das
Zeichen mystischer Tiefe, Wahrheit und Unerschöpflichkeit.