345
8. Das Rührselige
Wieder eine andere Art der Äußerung der Eingebungsschwäche
ist das Rührselige oder Sentimentale. Wie die Eingebungsschwäche
sowohl zur naturalistischen Oberflächenkunst als auch zur Kunst
mangelhaften Allgemeinwertes führt, die stets etwas U n w a h r e s
an sich hat (indem eben ohne Eingebung zur verborgenen Inner-
lichkeit und Wahrheit des Gegenstandes nicht vorgedrungen werden
kann); so führt sie auch zur rührseligen Kunst.
Das Rührselige, Empfindsame, Sentimentale, Schmachtende ist
im Leben wesentlich als ein Nichtdurchhalten der Gefühle und
Gesinnungen zu begreifen, als etwas, dem der letzte Ernst fehlt. Im
Schönen kann dies nur auf zu schwache Eingebung des Künstlers
zurückgeführt werden. Die unzulängliche oder bloß halb erträumte
Eingebung verführt den Künstler dazu, ein nur oberflächlich Erfaß-
tes für eine Äußerung des g a n z e n Wesensgrundes zu halten und
demgemäß Unechtes als echt zu behandeln.
Der sogenannte G a r t e n l a u b e n s t i l des ausgehenden neun-
zehnten Jahrhunderts bietet ein deutliches Beispiel für rührselige
Afterkunst; desgleichen die damals weitverbreiteten Romane der
M a r 1 i t t ja sogar G u s t a v F r e y t a g s , des sonst ausge-
zeichneten und hochverdienten, vielseitigen Verfassers und Ge-
schichtsschreibers, streifen zum Teil daran; noch mehr wohl jene
S p i e l h a g e n s.
Daß das Rührselige im besten Sinne auf die Jugend wirken kann,
welche ja zum letzten ernsten Kerne des Lebens noch nicht vor-
zudringen vermag, braucht nicht eigens betont zu werden. Daß
z. B. C h r i s t o f v o n S c h m i d s (1768—1854) Jugend-
geschichten („Genoveva“, „Ostereier“), die jedes Kind zu Tränen
rührten und zu edlen Gesinnungen erzogen, nicht auch heute noch
weiterwirken, kann jeder Kenner nur bedauern.
Das Rätsel, wieso die soeben genannte rührselige Kunst gerade
in der ersten Zeit des Aufkommens des Naturalismus blühte, löst
sich dadurch, daß hier wie dort Eingebungsschwäche zugrunde liegt,
der Geist der Zeit aber mit dem Naturalismus eine andere Richtung
nahm. Überhaupt kann die eingebungsschwache Kunst in keiner
Zeit ganz fehlen; nur wird sie gottlob immer wieder vergessen.
Mit der wachsenden Roheit der Zeit in den letzten hundertzwanzig