351
Nichtfesthalten, diesem Bruche sind Gehalt und Gestalt gleicherma-
ßen getroffen — denn beide sind auf dieser rein geistigen Ebene
noch nicht geschieden.
Das beweist auch der Kunstrichter überall dort, wo er dem be-
urteilten Kunstwerke „innere Widersprüche“ vorwirft; diese fallen
ja ebensowohl der Gestalt wie dem Gehalte, der Form wie dem
Inhalte zur Last. So lange das Schöne noch im Herzen des Künstlers
ruht, so lange noch alles unmittelbar von der Eingebung her be-
stimmt wird, gibt es eben noch keine vom Inhalt verhältnismäßig
trennbare „Form“ und keinen von der Form verhältnismäßig selb-
ständigen „Inhalt“ (wie Wein und Wasser gegen den Krug); alles
ist noch eins, die inhaltsbestimmte Gestalt und der gestaltete Inhalt!
Das Geistige des Schönen drückt sich selbst aus, Ausgedrücktes
und Ausdruck sind noch eins.
b . D i e m ö g l i c h e T r e n n u n g v o n G e h a l t u n d G e s t a l t a u f
d e n n a t u r h a f t e n E b e n e n
Wenn die naturhaften Gestaltungsebenen ihr Vorgeordnetes, das
Geistige vollkommen ausdrücken, besteht die Einheit von Gehalt
und Gestalt noch weiter. In Goethes „Iphigenie“ und Schillers „De-
metrius“ wird nichts an solcher Einheit vermißt!
Erst wenn sie ihr Vorgeordnetes nicht vollkommen zu gestalten
vermögen, erst dann treten Gehalt und Gestalt auseinander: Erst
dann tritt das Vorgeordnete, das Geistige dem Nachgeordneten,
dem Naturhaften, als G e h a l t verhältnismäßig selbständig gegen-
über! Die Form wird dann mehr und mehr — das heißt, je unvoll-
kommener, vom Gehalt abgetrennter sie ist — zur l e e r e n F o r m ;
Form und Inhalt nähern sich dann dem Beispiele des Kruges und
seiner wechselnden Füllung mit Wasser, Wein oder anderem. Auch
da ist die Trennung aber immer nur eine verhältnismäßige.
Der lange Streit, ob der Gehalt oder die Gestalt für das Schöne
maßgebend sei, ist damit geschlichtet:
(1) Im Falle der Unvollkommenheit der Gestalt treten erst Ge-
stalt und Gehalt auseinander und d a n n h a t d e r G e h a l t
d e n V o r r a n g ! Allein maßgebend ist er niemals, denn ganz
ohne Gestalt kann ein Kunstwerk nicht sein. Die Gestalt gehört not-
wendig zu ihrem Wesen. Stellt sie aber den Gehalt nicht vollkom-