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Jahren wurde ihr Gegenstand aber immer mehr der Naturalismus
in verschiedenen Formen, während in den älteren Zeiten noch das
vom bürgerlichen Willen zum Guten getragene Leben vorherrschte,
daher dem Rührseligen mehr zugeneigt war.
9.
Der eingebungsschwache Mensch als Gegenstand der Kunst
Versteht man die Unvollkommenheiten, die wir als Plattheit,
Trockenheit, Mache, Formalismus, fehlenden Allgemeinwert, Natu-
ralismus, Rührseligkeit und ähnliches kennzeichneten, aus ihrem
letzten Grunde heraus, nämlich der Eingebungsschwäche, dann
erklärt es sich auch, wieso alle diese Erscheinungen auch selbst wie-
der Gegenstand der Kunst sein können.
Auch die echte Kunst kann Philistrosität, Sonderbarkeiten usw.
zum Gegenstande nehmen; aber ihrer Darstellung muß dann der
Glanz der Eingebung anhaften!
Man braucht dafür nur auf M o 1 i è r e zu verweisen. Seine
Darstellung z. B. des eingebildeten Kranken, der Zierpuppen, des
Geizigen bleibt nicht am Äußerlichen, Naturalistischen hängen,
wird durch den Gegenstand nicht leer und trocken, wie etwa ver-
wandte Darstellungen Zolas und anderer Naturalisten; sondern sie
ü b e r h ö h t ihren Gegenstand hauptsächlich, indem sie w o h l -
w o l l e n d die Schwächen und inneren Unwahrheiten ihres Gegen-
standes erkennen läßt und dadurch, auch ohne davon zu reden,
die Überlegenheit der Welt des Wahren und Sittlichen zeigt. —
Ähnliches finden wir bei A r i s t o p h a n e s , der allerdings auch
sakrale Bezüge hineinmischt.
Ein denkwürdiges Beispiel dieser Art bildet auch Goethes „Jahr-
marktsfest zu Plundersweilen“. Bei bewundernswert treuer Schilde-
rung des Äußeren zeigt Goethe doch eingebungsvoll das Innere die-
ser Menschen, steht dadurch über ihnen und hebt das Gewöhnliche
ins Ungewöhnliche. Bliebe Goethe bei der äußeren Schilderung
stehen, so käme nur Hausbackenes zutage. Dagegen, wie die blaue
Luft an klaren Sommertagen von heimlichem Golde durchwirkt ist,
so wird auch hier das Ungewöhnliche wie von kosmischem Glanze
unvermerkt durchwoben. Dazu allein dient ihm auch die äußere
Schilderung der Menschen: einige Striche, und er hat sie.